Kredite abstottern

Wo prekäre Verhältnisse zur allgemeinen Norm werden: Das Filmfestival „globale“ im Kino Moviemento deckt zwischen Migration und Lifestyle-Apartheid einen weiten Themenkreis ab

VON BERT REBHANDL

Was ist Luxus? Eine Terrasse mit Blick über die Bucht von Alicante oder eine Barackensiedlung vor der Stadtgrenze von Berlin? Alles eine Frage der Definition und des Blickwinkels. Es gibt Menschen, die träumen von einem einsamen Haus am Meer und landen in einer „gated community“. Und es gibt Menschen wie Marie du Vinage, die es geschafft hat, keine Fixkosten mehr zu haben und dadurch ein „Glück jenseits materieller Abhängigkeit“ erlangt hat. Sie lebt in Wernsdorf mit einer Gruppe von Menschen, die nicht am täglichen Konkurrenzkampf teilnehmen und sich dem Erwerbsleben weitgehend entzogen haben. Sie lebt „prekär“, wie ein neuerdings häufig verwendeter Begriff dafür lautet, den sie selbst gar nicht auf sich anwenden würde. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind in der Regel gering entlohnt und leicht kündbar – wer kann darauf eine Lebensplanung aufbauen?

Das politische Filmfestival „globale“, das dieser Tage zum fünften Mal stattfindet, widmet sich all diesen Fragen in kurzen bis abendfüllenden, vornehmlich dokumentarischen Filmarbeiten, die einen weiten Themenkreis abdecken: Migration, Nahrung, G 8 und Protest, Gentrification und Lifestyle-Apartheid und schließlich Arbeit, Prekarisierung und „social fabric“.

Der kurze Film, in dem Marie du Vinage auftritt, stammt von dem Politvideokollektiv Ak Kraak: „Anette & Marie“ vergleicht zwei Fälle, zwei Existenzweisen, zwei Frauen. Da ist Anette, 37 Jahre alt, Single, Wohnung im Prenzlauer Berg, bisher im Marketingbereich tätig, nun frisch gekündigt. Anette spricht davon, was dieser Zustand für sie bedeutet. Sie muss ihre tägliche Existenz neu ausrichten. Was kann sie sich noch leisten? Kauft sie weiterhin im Bioladen? Wird sie die Wohnung im nächsten Monat noch bezahlen können?

Fragen dieser Art machen eine prekäre Existenz aus. In dem Maß, in dem die Wirtschaftsordnung sich globalisiert, werden prekäre Verhältnisse zur allgemeinen Norm. Es kommt dabei allerdings darauf an, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund man sich als prekarisiert erfährt. In Rumänien, wo die postkommunistische Transformation in vollem Gang ist, akzeptieren viele Menschen, dass sie – im europäischen Vergleich – ausgebeutet werden. Sie begreifen es als Aufstiegschance, in einer italienischen Schuhfabrik in Timisoara zu arbeiten.

Der Film „Made in Italy“ von Joanne Richardson von Media D zeigt, wie viele italienische Markenartikler ihre Produktion nach Rumänien verlagert haben. „Vor 2.000 Jahren waren die Römer auch schon hier, nun geht es wenigstens friedlicher zu“, sagt ein Manager. Der Friede steht allerdings unter Druck: In den neuen Fabriken wird die Produktivität der Belegschaft so zusammengerechnet, dass die Arbeiter ein Interesse daran haben müssen, weniger fleißige Kollegen loszuwerden. In dem begleitenden „Precarious Lives“ lässt Joanne Richardson zehn rumänische Frauen zu Wort kommen, die aus ihren „Erwerbsbiografien“ erzählen. Eine italienische Firma lässt in Rumänien Ölbilder nachmalen, hier sind die Künstler dazu angehalten, ihren Kollegen sogar Noten zu geben. Die Zusammenhänge zwischen dem alten Westeuropa und den neuen Mitglieder des Wirtschaftsraum aus dem früheren kommunistischen Osteuropa bilden einen modellhaften Ausschnitt in den globalen Zusammenhängen.

Die „globale“ greift darüber weit hinaus und bekommt viele Phänomene in den Blick, die sich alle auf die allmählich einheitlicher werdenden Effizienzkriterien im weltweiten Wirtschaftsleben beziehen lassen. Die beiden „Taxischwestern von Xian“ in dem chinesischen Dokumentarfilm von Fang Yu sind Unternehmerinnen auf eigene Rechnung. Konkret heißt das, dass sie 365 Tage im Jahr im zunehmend chaotischer werdenden Verkehr der Millionenstadt Xian fahren, mit den Regulierungen der Behörden zurechtkommen müssen, ihre Privatkredite bei der Verwandtschaft abstottern und zwischendurch hoffen müssen, dass die Polizei ihr Auto nicht bemerkt, wenn sie schnell auf die Toilette müssen und keinen passenden Parkplatz finden.

Lebens- und Arbeitsverhältnisse dieser Art sind weltweit eher die Regel als die Ausnahme, aber sowohl das kommunistische China wie die westlichen Demokratien sind einmal mit dem Anspruch angetreten, andere Verhältnisse zu schaffen: einen Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital, eine soziale Grundsicherung, die den Gemeinsinn stärkt und nicht den Konkurrenzkampf. Wie es aussieht, galten diese Ansprüche nur für eine historisch gesehen sehr kurze Periode.

Wer es heute aber auf die sichere Seite geschafft hat, für den haben die Immobilieninvestoren die passende Lösung: eine „gated community“ mit Blick über die Bucht von Alicante oder die Havel in Potsdam. Ein Pseudo-Arkadien, das eine Mauer gegen die Gesellschaft aufrichtet.

Programm unter: www.globale-film festival.org