Wenn die Erfahrung zerbröselt

Wie der Kanarienvogel in die Suppe kam und andere Familiengeheimnisse: In ihrem zweiten Roman, „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik“, macht sich Emma Braslavsky auf eine erzählerische Spurensuche in die Vergangenheit

Erfahrung zu stiften, ohne dabei Erklärungen geben zu müssen, so hat Walter Benjamin die Kunst des Erzählens beschrieben und damit zugleich die vage Hoffnung formuliert, dem prekären Zustand seiner Zeit etwas entgegensetzen zu können. Denn gerade das Vermögen, das eigene Leben und die Welt zu erfahren und sich dadurch zu eigen zu machen, war es, das nach Benjamin mit dem Aufbruch ins 20. Jahrhundert endgültig verloren gegangen war.

Der Roman wird also zur Synthese dessen, was in der Wirklichkeit längst auseinandergefallen ist. Fast traditionell könnte man angesichts dessen das nennen, was Emma Braslavsky in ihrem zweiten Roman macht. Denn der Wunsch, über Geschichte und über eigene Geschichte erzählerisch verfügen zu können, ist der Motor, der ihre Figuren antreibt. Braslavskys Debütroman „Aus dem Sinn“, der erst vor knapp anderthalb Jahren erschienen ist, warf einen wunderbar unbeschwerten und immer wieder auch formal schrägen Blick auf ein heikles Thema der deutschen Vergangenheit: das Leben der Sudetendeutschen in der ehemaligen DDR. Ihr neuer Roman, „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik“, hat dagegen eher den Charakter einer Versuchsanordnung, die man so oder ähnlich aus zahllosen Familienromanen zu kennen meint: Die Mutter ist gestorben, und ihre sieben Kinder treffen Anfang der Achtzigerjahre in ihrem kleinen thüringischen Heimatstädtchen zusammen, um sie zu beerdigen. Einer, Günther, der vor Jahren rübergemacht hat, ist sogar inkognito mit Perücke, Pumps und dem Personalausweis seiner Freundin von Westberlin aus eingereist.

Während der Handlungsrahmen durch die Rituale der Beerdigung strukturiert wird – Aufbahrung, Trauerzug, Beisetzung, Leichenschmaus –, melden sich nun abwechselnd die Geschwister zu Wort. Der Tod der Mutter, die man nun nicht mehr befragen kann, wird zum Anlass dafür, die eigene Geschichte zu rekonstruieren bzw. zu konstruieren, sie also, so hätte Benjamin das genannt, durch das Erzählen erfahrbar werden zu lassen.

Im Mittelpunkt steht dabei nicht so sehr die gerade verstorbene Mutter, sondern die Großmutter, die zwar außer dem aus dem Jenseits sprechenden Herbert keines der Geschwister je kennengelernt hat, um deren Leben sich aber viele Geheimnisse ranken. Warum sie nur hin und wieder auftauchte, ist die eine Frage, ob sie den eigenen Mann ermordet hat, eine andere. Die Familiengeschichte, nach deren Bruchstücken Braslavsky ihre Figuren graben lässt, wird so gleichsam ein Kriminalfall, zu dem die Geschwister ihre Aussagen zu Protokoll geben.

Wie als eine Art Gegengewicht zu dieser doch recht starren Konstruktion versieht Braslavsky ihren Roman mit allerlei skurrilem Beiwerk: Die Aufbahrung der Mutter fällt auf denselben Tag wie die des sowjetischen Staatsoberhaupts Leonid Breschnew, auf den 11. 11. 1982, den Karnevalsanfang, sodass sich trotz verordneter Staatstrauer einige kostümierte Narren auf den Straßen herumtreiben. Günther ist auf diese Weise mit seiner weiblichen Maskerade nicht so allein, hat sich aber durch das ungewohnt hohe Schuhwerk eine Knöchelverletzung zugezogen und muss deshalb auf dem Sarg liegend durch das Dorf gezogen werden. Bleibt noch der blaue Kanarienvogel der Mutter, der ein ganzes Arsenal von Clint-Eastwood-Sprüchen plappern kann, was der Tatsache geschuldet ist, dass die Mutter gern Westernfilme geschaut hat. Nachdem der Vogel während der Aufbahrung zunächst das vom Bestatter kunstvoll präparierte Gesicht der Mutter zerhackt hat, ertrinkt er in der Kartoffelsuppe, die von den Geschwistern aus einem melancholischen Reflex gekocht worden ist: Diese Suppe nach einem alten Familienrezept gab es immer nur dann, wenn die Großmutter ihre Lieben um sich versammelt hatte.

Dass sich trotz der Komik keine rechte Leichtigkeit einstellen will, mag daran liegen, dass die Autorin die Messlatte hoch gehängt hat: Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ ist nur eines der Vorbilder, die man aus dem Roman herauslesen kann. Außerdem büßt die Sinnlichkeit, mit der Braslavsky in ihrem ersten Roman einen verschwundenen Teil des 20. Jahrhunderts zusammensetzte, einiges an Wirkung ein. Das erzählerische Konstrukt liefert hier so viel Erklärungen, dass die Erfahrung zwischen den Fingern zu zerbröseln scheint. WIEBKE POROMBKA

Emma Braslavsky: „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik“. Claassen, Berlin 2008, 392 Seiten, 19,90 €