Ludmila Peskarová und Gabriele Knapp

Musik im Konzentrationslager – war sie Überlebenshilfe oder Folterinstrument? Zu ihrer Abschlussprüfung als Diplompädagogin vor zwölf Jahren wollte Gabriele Knapp, die vorher bereits eine Ausbildung als Musiktherapeutin gemacht hatte, dieser Frage nachgehen. Seither ist die heute 42-Jährige nicht mehr davon losgekommen.

Eigentlich, so hatte sie aus Sicht ihrer musiktherapeutischen Erfahrung angenommen, bewirke Musik immer etwas Gutes. Während ihrer Gespräche mit Überlebenden des Frauenorchesters von Auschwitz hat sie diese These jedoch verworfen. „Um im KZ zu überleben, bedurfte es eines psychischen Adaptionsprozesses“, so Knapp. „Musik, klassische wie populäre, erinnerte die Gefangenen jedoch an schönere Zeiten, was ihren emotionalen Panzer brüchig werden ließ.“

Was für Knapp zunächst nur eine Fragestellung im Nebenfach war, wurde zu ihrem Dissertationsthema. „Um Kreativität im KZ ranken sich viele Mythen“, sagt sie. Psychische Entlastung, Ablenkung, Selbstvergessen sind Stichworte. Wichtiger aber sei es, meint Knapp, sich zu vergegenwärtigen, dass die Musiker und Musikerinnen sich der Musik öffnen mussten, um sie spielen zu können. Vor allem wenn die Orchester von der Lagerverwaltung eingerichtet worden waren, bedeutete das jedoch: Sie mussten sich der SS öffnen. Konflikte und Widersprüche, Verzweiflung und Verachtung sind die Folgen, erläutert Knapp, die sich durch die Beschäftigung mit Musik im Konzentrationslager von der Musiktherapie ab- und der Wissenschaft zuwandte.

Bei ihrem jüngsten Forschungsprojekt über Musik im Frauen-KZ Ravensbrück stieß sie auf die 1890 geborene Musiklehrerin Ludmila Peskarová. Die Tschechin hat im Lager Lieder komponiert und gilt als produktivste „Dichterin und Lagersängerin“, wie Aleksander Kulisiewicz, ein Überlebender des KZ Sachsenhausen, über sie sagte. Außergewöhnlich dabei: Es liegen Notationen von ihr vor.

Etwa hundert Kompositionen und Gedichte hat sie in der Gefangenschaft geschrieben. Davon sind 25 Lieder überliefert, weil Peskarová in den Sechzigerjahren einem Aufruf für eine Ausstellung über Musik im Konzentrationslager folgte und sie an das Arbeiterliedarchiv der Akademie der Künste der DDR schickte. Nach den vorliegenden Dokumenten sind in der Ausstellung jedoch nur Zeugnisse männlicher Häftlinge präsentiert worden.

Peskarová lebte im von den Deutschen annektierten Teil der Tschechoslowakei, in Mähren. Im Mai 1943 wurde sie verhaftet. Sie hatte zum Andenken an ihren nach dem Heydrich-Attentat 1942 in Kaunitz hingerichteten Mann, einen tschechischen Widerstandskämpfer, zwei schwarze Fähnchen ins Fenster gestellt. Für die Gestapo war das Hochverrat.

Im Gefängnis begann sie, mit anderen gefangenen Frauen zu singen, dabei schrieb sie anfänglich neue Texte auf Melodien von Dvořák und Smetana. Klagelieder sind es, die vom Verlust von Freiheit und Heimat berichten. Eindringlich klingen sie und schlicht, wenn Gabriele Knapp sie singt. Zum Todestag ihres Mannes komponierte Peskarová das erste eigene Lied mit folgendem Text: „Der Name Heydrich sei verflucht! Verhängnisvolle Wohnheime in Kaunitz, o weh! Dort erloschen viele edle Leben! Wer wird von unserem Schmerz und unserem Leid berichten? Nur der Ballade düsteres Lied singt es heraus.“

Von Oktober 1943 bis zum Ende des Krieges war Peskarová in Ravensbrück interniert. Zuerst im Kommando Handstrickerei, später in der Waschküche. Peskarová berichtet in ihren Begleitbriefen an die Akademie in Ostberlin, dass sie und die anderen Strickerinnen patriotische tschechische Lieder sangen, wenn sie unbewacht waren. Außerdem habe sie sich auch mit Frauen aus Lidice getroffen, um heimlich hinter den Baracken zu singen und Gedichte zu sammeln.

Das Auswendiglernen soll sie „geistig über Wasser“ gehalten haben, auch bei den stundenlangen Appellen. „Im Geiste habe ich gesungen, und wenn mir die Worte nicht einfielen oder der Text eines Liedes nicht das ausdrückte, was ich fühlte, habe ich meinen neuen, passenden Text unterlegt“, erläutert sie in ihren Briefen. Manchmal notierte sie ihre Verse und Kompositionen auf Papierfetzen. Unschätzbare Dokumente aus heutiger Sicht. Peskarová riskierte dafür ihr Leben, Papier zu besitzen war nicht erlaubt. Ebenso verboten war es, sich dem eigenen kulturellen Hintergrund entsprechend auszudrücken. In ihrem Falle: auf Tschechisch zu singen.

Peskarová schrieb schlichte Melodien mit zwei- oder dreistimmiger Begleitung. „Diese Arbeiten musikwissenschaftlich als zu einfach zu verwerfen“, sagt Gabriele Knapp, „wird ihnen historisch nicht gerecht. Die Lieder haben der Gefangenen geholfen und waren doch gleichzeitig Ausdruck der Selbstbehauptung.“ Zudem hat Peskarová auf diese Weise die Grausamkeit des Lagers, den Hunger, die Angst, die Sehnsucht festgehalten.

Über Peskarovás Leben nach 1945 konnte Knapp, die im Haus der Wannseekonferenz in Berlin zum Thema Musik und Nationalsozialismus Seminare hält, bisher nichts herausfinden. Sind die Lieder nach dem Krieg je wieder gesungen worden? Hat Peskarová weiterkomponiert? Die Quellenlage in Knapps Forschungsbereich ist häufig miserabel. Manchmal stehen Sätze wie: „Nina aus Warschau hatte eine tolle Stimme“, oder: „Später soll sie in Minsk gelebt haben“, am Anfang einer ihrer Recherchen.

Neulich allerdings hatte Knapp eine Sternstunde. Sie glaubt, Peskarovás Sohn, der bei der Verhaftung seiner Mutter als 14-Jähriger allein zurückblieb, ausfindig gemacht zu haben.