Von Statistik und Einfühlung

Eine Veranstaltung im Kölibri geht der Geschichte der so genannten Sonderkommandos von Auschwitz nach. Zu Gast ist Andreas Kilian, Mitautor des Buchs „Zeugen aus der Todeszone“

von ANDREAS BLECHSCHMIDT

Die Ermordung des europäischen Judentums ist ein einmaliger und beispielloser Vorgang in der Geschichte. Seit 1945 gibt es eine kaum mehr übersehbare Menge von Versuchen, die Dimension des nationalsozialistischen Massenmordes zu fassen. Ein zentrales Problem der Aufarbeitung hat der Historiker Dan Diner dabei mit der Kategorie der „gestauten Zeit“ beschrieben: Der Massenmord an den europäischen Juden hat eine Statistik, aber kein Narrativ.

Die Ermordung von Millionen Menschen in einem systematischen Prozess innerhalb kurzer Zeit entzieht sich einer angemessenen Beschreibung. An die Stelle einer historischen Erzählstruktur tritt die Statistik objektiver Geschichtswissenschaft oder der Versuch, mit der Einfühlung in individuelle Schicksale den Mangel an der Fassbarkeit der Shoah insgesamt zu kaschieren. Nicht zufällig hat in der historischen Aufarbeitung die Geschichte der so genannten Sonderkommandos in den Vernichtungslagern bis vor wenigen Jahren kaum über einen kleinen Kreis von HistorikerInnen hinaus eine Rolle gespielt. Die Häftlinge wurden von der SS gezwungen, unmittelbar an der Ermordung der Menschen in den Gaskammern mitzuwirken. Sie mussten die Opfer in die Gaskammern begleiten, später dann die Ermordeten zu Öfen oder Gruben schaffen und sie dort verbrennen.

Die Angehörigen der Kommandos wurden schließlich selbst in regelmäßigen Abständen ermordet. Nur wenige der schwer Traumatisierten haben überlebt. Erst Mitte der 90er Jahre hat der israelische Historiker Gideon Greif Überlebende des Sonderkommandos von Auschwitz dazu bewegen können, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Überlebensschuld und die Konfrontation mit der eigenen Erinnerung an Erlebnisse, die die Vorstellungskraft dessen sprengt, was sie als Mitglieder der Sonderkommandos ertragen mussten, haben die Überlebenden ihr ganzes Leben nach 1945 begleitet. Lange haben sie keine Worte für das gefunden, was im Sinne eines Verstehens und Verarbeitens unbeschreiblich bleiben musste.

Der Arbeitskreis gegen das Vergessen und das Stanislaw-Hantz-Bildungswerk haben nun den Historiker und Mitautoren des Buches Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz Andreas Kilian eingeladen, über die Geschichte des Sonderkommandos zu berichten. Kilian wird heute aus dem beim zu Klampen Verlag erschienenen Buch lesen und eine Einführung in das bisher wenig beachtete Thema geben. Die Veranstaltung bietet so Einblicke in zentrale Fragestellungen und Probleme bei der Erforschung der Shoah. Die Rekonstruktion historischer Fakten angesichts des systematischen Versuchs der Täter, ihre Verbrechen zu verschleiern, wie auch die Konfrontation objektiver Wissenschaftlichkeit mit den Zeugnissen traumatisierter Überlebender sind nur zwei signifikante Probleme, mit denen sich HistorikerInnen auseinander setzen müssen.

Gleichzeitig steht auch die Erforschung der Geschichte der Sonderkommandos in einem aktuellen gesellschaftlichen Kontext, in dem das Selbstmitleid im Land der Täter anlässlich der 60. Wiederkehr der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad und der Frage, ob die Deutschen nicht Opfer eines „verbrecherischen“ Luftkriegs der Alliierten waren, die Auseinandersetzung mit der Shoah überlagert. So gesehen stellt die Veranstaltung im Kölibri eine notwendige Korrektur des fortgesetzten Versuchs dar, historische Ereignisse gegeneinander aufzurechnen.

heute, 19.30 Uhr, Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12