harald fricke über Märkte
: Zollfrei gegen die Schäden der Flut

Butterfahrt nach Tschechien ersetzt das abgesoffene Kino. Supermärkte schwimmen von Bad Schandau elbaufwärts

Der Schaden ist groß. In den Bäumen entlang der Uferböschung hängen Kühlschränke und zersplitterte Regalbretter, auf dem Weg durch den Ort sind sämtliche Geschäfte noch immer geschlossen. Der Jeansshop No. 1 wird wohl gar nicht wieder öffnen, die Bäckerei wurde bis auf weiteres in einen Imbisswagen ausgelagert. Das Wasser stand hoch in Bad Schandau, gut vier Meter oberhalb der Hauptstraße. Diese Höhe ist an einer Hauswand markiert. Wenn man zum Scheitelpunkt des Elbehochwassers vom letzten Jahr hinaufschaut, wird einem schon sehr mulmig.

Nach dem Wasser kamen die Spenden, nach den Spenden kam der Wiederaufbau in die Sächsische Schweiz. Und nach dem Aufbau? Stehen die meisten Läden trotzdem leer, weil schon allein die alten, bereits lange vor der Flutkatastrophe aufgenommenen Kredite bei den Banken nicht mehr zurückgezahlt werden können. Was aber ist das mühevolle und triste Tagewerk des Aufbaus Ost angesichts der rasanten Naturgewalten?

Dass Bad Schandau nicht vollends zu einer Geisterstadt geworden ist, verdankt der Kurort einem neuen Handelswesen, das sich entlang des Elbkais massenweise ausgebreitet hat. Gleich ein halbes Dutzend Schiffe von verschiedenen Reedereien legt hier seit dem 1. November mehrmals täglich zu Butterfahrten zwischen Deutschland und Tschechien ab.

Es ist eine fremde, seltsame Welt. Die Schäden der Jahrhundertflut haben ausgerechnet einen Boom von schwimmenden Supermärkten ausgelöst. Mit zollfreier Ware rettet sich die Region aus der Krise.

Nun sind Butterfahrten nicht gerade Veranstaltungen, die man mitten im gebirgsreichen Sachsen erwarten würde. Das Duty-free-Shopping war in früheren Zeiten doch eher dem Schiffsverkehr auf der Nord- und Ostsee vorbehalten. Wer in Schleswig-Holstein aufwuchs, wird sich dabei wehmütig an Touren erinnern, auf denen man für zwei, drei Stunden nach Dänemark schipperte, mit Skandinaviern um die Wette trank und schließlich in der Borddisco zu Abba-Hits völlig abgefüllt vor sich hin schnarchte.

Dann kam der 30. Juni 1999, der Tag, an dem die Möglichkeiten des zollfreien Einkaufs innerhalb der EU gestrichen wurden. Fortan blieb es sehr still auf den Fähren nach Fünen oder Sonderborg. Viele Schiffslinien wurden gleich ganz eingestellt, weil sich der Verkehr ohne Verkauf nicht mehr lohnte.

Offenbar hat sich aber doch noch eine Lücke für unversteuerte Waren gefunden. Jetzt werden eben Häfen angefahren, die in Nicht-EU-Ländern liegen, damit auf dem Weg dorthin zollfrei eingekauft werden kann. Da ist zum Beispiel die „Finnjet“ der Reederei Silja Line, die auf ihrer Fahrt von Helsinki nach Rostock einen Abstecher ins außereuropäische Estland macht, damit die Passagiere sich mit einer großen Zollration eindecken können. In Bad Schandau geht es allerdings nicht übers offene Meer, sondern bloß ein Stück weit die Elbe hinunter. Genau genommen sind es gerade mal zehn Kilometer zwischen dem Ableger am Elbkai und dem Zielhafen im tschechischen Děčín. Das Schiff macht die Tour in 90 Minuten, das reicht für 200 Zigaretten, einen Liter Schnaps, 500 Gramm Kaffee und drei Fläschchen „Hugo Boss Deep Red“ oder das fies süßlich stinkende Eau-de-Toilette-Spray von Naomi Campbell. Da es voraussichtlich bis 2004 dauern wird, ehe Tschechien in die EU aufgenommen werden kann, sieht es erst einmal gut aus für den Umsatz auf der Elbe.

Anders als der neue Grenztourismus nach dem Zerfall des Ostblocks vor dreizehn Jahren geht hier niemand mehr auf Entdeckungsreise. Das Geld wird an Bord ausgegeben, danach stromert man missmutig eine knappe Stunde durch die Straßen beim tschechischen Nachbarn und sieht zu, dass man auf dem Rückweg noch ein paar Billigbiere auf dem Zwischendeck abschluckt. Ohnehin sind die meisten Duty-free-Touristen Schnäppchen jagende Profis, die mit der S-Bahn aus Dresden oder Pirna anreisen und die Ware abends im Kreise der Bekannten weiterverticken, um sich mit dieser informellen Ökonomie über Wasser zu halten.

Der Rest der Shoppingreisenden kommt aus den Kurkliniken rund um Bad Schandau. Die können ihren Gästen kaum mehr Unterhaltung bieten, seit im letzten Sommer die Stadtbücherei, die evangelische Kirche und das kommunale Kino abgesoffen sind. Klinikgäste werden sich nun als Erinnerung an die Reha statt regionaler Strohblumenfolklore eine ordentliche Flasche „Wilthener Goldkrone“ mit nach Hause bringen. Wobei die Weinbrand-Sprit-Kombination, die erstmals 1977 in den volkseigenen Betrieben der Oberlausitz als Ossis Dröhnung gemixt wurde, in der zollfreien Variante von heute ungefähr den alten EVP-Preisen der DDR-HO-Konsumläden entspricht. Aber das ist ein anderer Treppenwitz der Geschichte.

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