Forsthaus, Wolfsschlucht und Musik

In Sachsen stoßen Reisende überall auf das Vermächtnis des Komponisten Carl Maria von Weber. Schon früh tingelte der „Freischütz“-Urheber mit der elterlichen Schauspieltruppe durch die Lande und feierte als pianistisches Wunderkind Erfolge

„Das Anschauen einer Gegend ist mir die Aufführung eines Musikstücks“

von STEFAN SCHOMANN

Aber wo liegt denn nun die Wolfsschlucht? Seit der triumphalen Uraufführung des „Freischütz“ 1821 in Berlin erregt die schaurig-schöne Szenerie aus der berühmten Oper die Gemüter. Zum einen handelt es sich um eine archetypische Seelenlandschaft, zum anderen aber um eine ganz reale Felsenwelt. Schon den Zeitgenossen war geläufig, dass Carl Maria von Weber und sein Librettist Friedrich Kind als Schauplatz ihrer romantischen Oper das Elbsandsteingebirge vor Augen gehabt hatten. Noch der vorangehenden Generation war dieses steinerne Labyrinth vor den Toren Dresdens als ein gräulicher Un-Ort erschienen, als „Verwüstung und Untergang in Groß und Klein“. Doch als mehr und mehr Maler, Dichter und Gelehrte dorthin pilgerten, schien bald „jeder Tritt romantisch“. Besonders Caspar David Friedrich war von der Szenerie bezaubert, und spätestens durch den „Freischütz“ kam sie vollends in Mode.

Schon 1831 etwa reiste Hans Christian Andersen dafür bis von Kopenhagen an: „Ich sehnte mich nach der Sächsischen Schweiz.“ Munter bestieg er die Felsbastionen – „hier ist es hoch, sehr hoch!“ –, zwängte sich durch dunkle Klüfte und rief das zum geflügelten Wort gewordene: „Hilf, Samiel!“. An der böhmischen Grenze stieß er gar auf Wachsoldaten, die Opernmelodien vor sich hin sangen. Schon damals geleiteten findige Führer die Besucher an mehr oder weniger authentische Schauplätze, und bis heute lässt es sich zwischen Wehlen und Bad Schandau auf Webers Spuren trefflich wandeln.

Wie versteinerte Sandburgen ragen die Massive aus dem Waldmeer. Die Dörfer ducken sich in dunkle Täler oder liegen, wie Andersen bemerkte, zu Füßen der Felsbasteien „wie Spielzeug auf einem Jahrmarktstisch“. Das „Freischütz“-Milieu mit Forsthaus, Waldschenke und Jagdgesellschaft ist hier lebendig geblieben. Dutzende von Chören singen an den Wochenenden von stolzen Bergeshöhen und vom edlen Waidwerk. Hornisten schmettern ihre Signale gegen die Felswände und proben den Kanon mit dem Echo. In den Dörfern steigen reihum Schützenfeste, ganz wie im ersten Akt, nur dass der Doppeladler auf dem Pfahl mit Armbrüsten und nicht mit Flinten heruntergeschossen wird. Wer trifft, ist ein ganzer Kerl, wer fehlt, muss sich Zweifel an seiner Manneskraft gefallen lassen. Der Schützenkönig kriegt die Schützenkönigin, Glück zu, Bauer, bis zum nächsten Jahr.

Dass Max den Schamanen Samiel konsultiert, entspricht, wie ein Besuch bei Revierförster Gerhard Steiner lehrt, durchaus archaischer Praxis: „Der ‚Freischütz‘ ist, was das Jagdliche angeht, sehr lebensecht. Wer wiederholt danebenschießt, versucht die Scharte mit allen Mitteln auszuwetzen, selbst mit magischen.“ Steiner lebt in einem abgeschiedenen Forsthaus im Kirnitzschtal, von dem aus schon die sächsischen Könige durch die Wälder und Auen zogen. Den „Freischütz“ kennt er selbstverständlich von Kindheit an, hat ihn mehrfach in der Felsenbühne Rathen erlebt. In deren wildromantischer Kulisse, hoch über der Elbe kommt die erste Outdoor-Oper der Musikgeschichte gänzlich zu sich selbst.

Auch an der Dresdner Semperoper führt der „Freischütz“ die Hitliste an: Seit 1822 wurde er gut 1.600-mal gegeben. Bis heute fungiert Weber als eigentlicher Patron des Hauses, an dem er neun Jahre lang gewirkt hat. Namentlich die Bläser der Staatskapelle halten sich viel darauf zugute, in lückenloser Kette noch vom Meister selbst instruiert worden zu sein. Als Bronzestandbild auf dem Vorplatz wacht er auch weiterhin über die Geschicke des Hauses. Letzten Sommer ragte er noch unerschütterlich aus den Fluten der Elbe, als die Oper selbst schon aufgegeben werden musste. Rietzschels Statue zeigt den schwindsüchtigen Kapellmeister als tapfer leidendes Genie, ein Heiliger mit weichen Zügen, sacht den Zeigefinger hebend: „Aufgemerkt!“.

Auch andernorts in Sachsen hat Weber Spuren hinterlassen. Ein echtes Theaterkind, tingelte er schon früh mit der elterlichen Schauspieltruppe durch die Lande und feierte als pianistisches Wunderkind Erfolge. Im Jahr 1800 ließen sich Vater Franz Anton und sein 14-jähriger Sohn dann im sächsischen Freiberg nieder. Der unstete, aufschneiderische Vater glaubte, mit einem neuartigen Notendruckverfahren groß herauskommen zu können. Während er in der alten Bergbaustadt Geldgeber aufzutreiben suchte, schrieb der Junge eine Oper: „Das stumme Waldmädchen“. Sie wurde am Freiberger Schauspielhaus aufgeführt, das als ältestes Stadttheater Deutschlands bis heute bespielt wird. Verschachtelt steckt es in einem mittelalterlichen Häuserblock; die intimen Proportionen des Saals lassen die Atmosphäre von damals noch erahnen. Hier fiel das „Waldmädchen“ glatt durch, doch acht Jahre später arbeitete der angehende Komponist es zur Oper „Silvana“ um, die wiederum in vielem den „Freischütz“ vorwegnimmt. Und so kamen die Weberischen doch noch groß heraus.

„In den Dörfern steigen reihum Schützenfeste, ganz wie im ersten Akt“

An prominente Namen ist man in Freiberg gewöhnt. Kein Geringerer als Novalis hat hier an der berühmten Bergakademie studiert, auch Alexander von Humboldt weilte häufig dort, ebenso Goethe und Theodor Körner. Bis ins späte Mittelalter war Freiberg die größte Stadt in Sachsen, wovon der wuchtige gotische Dom, die beiden stolzen Marktplätze und die „Reiche Zeche“ zeugen, ein verzweigtes Silberbergwerk, das den Besuchern bis heute eindrucksvoll vor Augen führt, woher das Erzgebirge seinen Namen hat.

Webers Stadtwohnung in Dresden fiel zwar den Bomben zum Opfer. Doch sein „Sommerparadies“, das Winzerhaus in Hosterwitz, wo die Partitur des „Freischütz“ entstand, hat überdauert. Es liegt zwei Gehstunden elbaufwärts bei Schloss Pillnitz und beherbergt heute ein Museum. In biedermeierlichem Interieur zeigt es Reliquien wie des Meisters Stimmgabel, Visitenkarten und viele Briefe. Die Porträts reichen von Zeichnungen, auf denen er wie ein bebrillter Pinguin aussieht, über das würdige Ölgemälde des Herrn Direktors bis zum leidvoll vergeistigten Antlitz der Totenmaske.

Das flachsgelbe Haus bildet seit dreißig Jahren die Wirkungsstätte von Adelheid von Lüder-Zschiesche. „Ich gehe abends mit dem Carl Maria zu Bett“, schäkert sie, „und stehe morgens mit ihm auf.“ Unermüdlich lädt sie Künstler zu Hauskonzerten und hat schon Generationen von Besuchern ins Schicksal ihres Helden eingeführt. Im nahen Keppgrund, einer Waldschlucht zwischen den Weinbergen, pflegte er spazierenzugehen, genoss „Waldlust und Volkston“. Natur war ihm Bedürfnis und Inspirationsquelle dazu: „Das Anschauen einer Gegend ist mir die Aufführung eines Musikstücks.“ Carl Maria von Weber hat das Elbtal zum Klingen gebracht.

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