Zentralismus unterhöhlen

Suche nach kulturellem Fundus: 33 Autoren sind vom Wochenende an zu einem Literaturhaus-Symposion geladen, das Europas Facetten gegen die stetige Brüsseler Rede von Identität stiftenden Binnenmärkten setzen soll

Interview: PETRA SCHELLEN

„Sprache, abgehetzt, ... auf dem endlosen Weg zum Hause des Nachbarn .“ Johannes Bobrowski, der schon in den 60er Jahren die geistige EU-Osterweiterung betrieb, sah genau, woran Europa bis heute krankt: Daran, „dass wir nichts wissen voneinander“. „Europa weiß nichts über sich selbst“, sagt auch Literaturhaus-Leiterin Ursula Keller zur Begründung für das am Wochenende startende Symposion „Europa schreibt“. 33 AutorInnen hat sie eingeladen, europäisches Selbstverständnis zu diskutieren.

taz hamburg: Was bezweckt das Symposion? Weiß Europa nicht schon alles über sich?

Ursula Keller: Europa weiß entschieden zu wenig von sich. Es versteht sich derzeit allein marktwirtschaftlich-politisch als Euroland, und eine Reflexion über seine kulturellen Grundlagen findet nicht statt. Aber die Diskussion über Binnenmärkte kann doch nicht alles sein, was einem zu Europa einfällt!

Wie konnte der Begriff von Europa so verkommen?

Es gab einmal einen Begriff von Europa, der sehr emphatisch war, gesättigt mit abendländischen Prätentionen. Mit diesem Begriff kommen wir aber heute nicht weiter. Deshalb begeben wir uns mit den 33 Autoren auf die Suche nach dem, was den eigentlichen Reichtum Europas ausmacht: der Vielfalt seiner Kulturen, dem Reichtum an regionalen Farben, Tönen, Sprachen und Lebensformen.

Wenn Vielfalt so prägend ist, wirkt dann die Suche nach Gemeinsamkeiten nicht etwas gewollt?

Nein. Europa hat eine lange, komplizierte Geschichte, die so reich ist an Krisen wie an unerhörten geistigen und zivilisatorischen Hervorbringungen. Was alle diese Kulturen letztlich gemeinsam geschaffen haben, ist aufgehoben in so etwas wie einem kollektiven europäischen Gedächtnis.

Das klingt recht exklusiv. Wo würden Sie denn die Grenze Europas ansetzen? Die Ukrainer etwa fühlen sich durchaus als Europäer. Für die benachbarten Weißrussen dagegen wird es absehbar keine EU-Perspektive geben.

Ich denke, es wird um ein Europa gehen, das an den Rändern offen ist. Ein multikulturelles Europa, das sich seiner selbst so sicher ist, dass es auch Türkei, Ukraine und Weißrussland integrieren kann. Dafür aber muss Europa eben sehr genau wissen, was es eigentlich ist und worum es ihmgeht.

Allerdings hat Ihre Symposions-Idee nicht in allen Ländern gleichermaßen gezündet...

Nein. Nachdem wir von 15 der prominentesten englischen Autoren Absagen bekommen hatten, haben wir aufgehört, England an den Tisch zu bitten. Zudem war zu beobachten, dass die Osteuropäer viel begeisterter zugesagt haben und dass aus ihren Essays ein viel reicheres, komplexeres Bild von Europa spricht, als bei den westlichen Autoren. Für viele Osteuropäer ist Europa ein großer Kulturraum, ein Hoffnungsraum. Westliche Autoren haben oft ein eher pragmatisches Europa-Verständnis.

Wenn diejenigen, die fürchten, draußen zu bleiben, ein so dichtes Europabild haben, während es die Westeuropäer eher langweilt: Zeigt das nicht, dass Europa bloß als Vision interessant ist, nicht aber als Realität?

In der Zeit, in der die Osteuropäer abgetrennt waren durch den Eisernen Vorhang, haben sie sich an diesem kulturellen Europa innerlich aufgerichtet. Die bewusst gepflegte Zugehörigkeit zur europäischen Kultur war für sie eine sehr reale Frage des geistigen Überlebens.

Das heißt, eine Unschärfe bleibt: Der Osten macht sich ein – wie auch immer geartetes – Bild von Europa, ist aber politisch-wirtschaftlich noch nicht dort. Der Westen dagegen ist Europas schon überdrüssig, bevor die EU überhaupt richtig begonnen hat. Wo liegt Europa also wirklich, gibt es das überhaupt oder ist es bloßes Phantom?

Genau das gilt es herauszufinden. Vielleicht sollten wir Europa weder als Euroland noch als geographische Einheit verstehen, sondern als vielfältig strukturierten Erfahrungsraum, als geistige Haltung, die sich in Europas wechselvoller Geschichte auf engstem Raum herausgebildet hat. Eine Erfahrungsvielfalt, die in den zentralistischen Vorstellungen Brüssels von Einheit und Identität nicht aufgehoben ist.

Apropos Brüssel: Könnten Sie sich vorstellen, die Resultate des Symposions in den EU-Konvent, der derzeit eine europäische Verfassung ausarbeitet, einzubringen?

Das wäre schön. Wir haben zum Symposion auch Europa-Abgeordnete eingeladen und sind gespannt auf das Echo.

Symposion Europa schreibt: 26.–31.1., Literaturhaus, Schwanenwik 38. www.europaschreibt.de