Für den ganzen Kopf

„The White Birch“ bieten mit ihrem Album „Star Is Just A Sun“ hervorragende Gelegenheiten zum Kummer. Sonntagabend lassen sie ihren Beinahe-Slow-Pop in der Tanzhalle hören

von GREGOR KESSLER

Die Sache mit Norwegen und seiner kleinen Welle ruhiger Bands war ein gefundenes Fressen für jeden Hobby-Psychologen. Der nordische Sommer ist kurz, der Winter um so länger. Tageslicht ist rar, der Polarkreis nah – und ständig durch tiefe Wälder und triste Tundren zu fahren, hebt die Laune auch nicht direkt. Kein Wunder also, dass der Norweger zur Melancholie neigt, sich in dicke Strickpullover hüllt und betrübte Weisen über das Leid der Welt und der Liebe anstimmt. Oder?

Doch bis vor ein paar Jahren tummelte sich in Norwegen noch eine wütend aggressive Black Metal-Szene, die Holzkirchen anzündeten und ein höllisches Geböller hören ließ. So einfach scheint das Phänomen also nicht erklärt zu sein. Das ist nicht weiter schlimm, schließlich liefern The White Birch mit ihrer jüngsten CD Star Is Just A Sun bereits genug Gelegenheiten zum Kummer. Zehn schmerzhaft schöne Songs, die in vielen Fällen auf einem simplen, repetitiven Klavierthema basieren, um das sich nach und nach immer dichtere Schichten sphärischer, rhythmischer Keyboard-Sounds legen, bis uns schließlich jegliches Gefühl für Raum und Zeit abhanden gekommen ist. Ob dieser Loop nun bereits drei oder 30 Minuten im reinen Wohlklang vor sich hin pulsiert, irgendwann kann man es nicht mehr sagen und es würde auch nicht stören, bestünde die gesamte Platte aus seinem warmen Puls.

Das ist Kopfhörermusik, denn nicht die Ohren hören diese Songs, sondern der ganze Kopf. Er projiziert einen Film zu diesem Soundtrack auf die Hirnrinde, der über denselben steinigen Fjordufern schwebt, an die auch Sigur Ros ihre Epen spülen. Dann wird das eiernde Hintergrundkeyboard schnell zu einem Schwarm schreiender Möwen am Horizont, während Ola Flottums fast beiläufiger Sprechgesang die Präsenz eines versonnen faselnden Einheimischen andeutet.

Gerne werden zur Verortung des unwirklichen Schwelgens dieser Musik in einzelnen Stimmungen die Arbeiten Mark Hollis herangezogen. Dabei tragen die Lieder des ehemaligen Talk-Talk-Kopfes, der seine Band mit den letzten beiden Platten nachhaltig aus der Spur des Hitparadenerfolgs in die Arme der Liebhaber wagemutiger Produktionen voller Dub-Räumlichkeit und emotionaler Spookiness geworfen hat, doch meist ein paar zusätzliche Soundschichten auf. Und die ordnen die Songs einem Genre zu, das man vielleicht Avant-Pop nennen könnte. Dagegen klingen The White Birch, die 1998 mit einem fast rockigen Album (People Now Human Beings) debütierten und sich seither zunehmend verlangsamten, fast narkotisierten, wie eine Slow-Pop-Band.

Daran ist nichts Schlechtes, und es lässt sich auch Absicht unterstellen. Schließlich benannte die Band sich offenkundig nach dem vierten und letzten Album der Entdecker der Langsamkeit, Codeine. Ironischerweise erschien dieses damals noch bei Sub Pop, in Europa lizensiert vom deutschen Glitterhouse-Label, das wiederum nach dem Niedergang des Grunge-Hypes eine Neuausrichtung hin zum aufrechten Singer/Songwritertum erlebte. Nachdem Glitterhouse nun auch die jüngste The White Birch Platte veröffentlichte, ist der Kreis wieder geschlossen.

Sonntag, 22 Uhr, Tanzhalle