Burn, money, burn!

Überstunden ohne Lohnausgleich statt 35-Stunden-Woche. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse statt lebenslanger Anstellung. Und Manfred Krug gesteht erst 2007 seinen größten beruflichen Fehler ein. Warum die gescheiterte New Economy auch heute noch wirkt

Der Begriff: Das Netzkünstler-Duo „station rose“ benutzte den Begriff „Digitale Bohème“ bereits 1995. Ein Begriff, der aber erst 2007 salonfähig wurde. Auch durch das im November 2006 erschienene Buch „Wir nennen es Arbeit“ von Holm Friebe und Sascha Lobo. Unter dem Begriff verstehen die beiden Autoren eine Gruppe von Menschen, die „sich dazu entschlossen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dabei die Segnungen der Technologie herzlich umarmen und die neusten Kommunikationstechnologien dazu nutzen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern.“ Im Anschluss an die New Economy wird auch mit „Digitaler Bohème“ eine neue Form des Unternehmertums verbunden – jenseits der Angestelltenkultur.

Die Erkennungsmerkmale: weiße Rechner, Bionade, Milchkaffee, Augenringe, Britpop-Fönfrisur (m), Pony (w).

Es ist irre: Man geht nicht mehr arbeiten, das Internet verdient das Geld! Zu Beginn des neuen Jahrtausends scheint es so weit zu sein: Jeder Mensch kann ein Börsenmakler werden, die Produktionsmittel heißen Internetanschluss und Tagesgeldkonto. In den Zeitungen stehen täglich die tollsten Geschichten – mit zwei Mäuseklicks zu den Millionen, ach Quatsch: den Milliarden.

Passend zum Millennium ist der Kapitalismus mit seiner Leuteschinderei Geschichte. Und der da, das ist einer, der hat eine Firma aufgemacht, die verkauft Geschenkpapier für E-Mails! Für solche Geschäftsideen verschleudern sogenannte Venture Capitalists Millionen Dollar. „Stock Options“ und „Initial Public Offering“, Mitarbeiterbeteiligungen und Börsengang lauten die Satzfetzen aus der Grünen-Tee-Küche. Nebenbei wird das rauchfreie Büro erfunden, das Abwickeln von Geschäften und Überwachen per Computer perfektioniert. An der neuen Technik trainiert die Wirtschaft für ihren Jetztzustand: Unter dem Vorwand, dass sie nun erfolgreiche Arbeitskraftunternehmer sind, gelingt es sogar, die Angestellten jeden Tag nüchtern an den Arbeitsplatz zu bringen.

Und sie kommen gern. „Dot-Com“-Unternehmen heißen die kleineren und größeren Klitschen – nach dem englischen Internetseiten-Kürzel –, die Handy-Klingelton-Downloads bereitstellen und SMS-übertragbare Veranstaltungskalender betreiben, kombiniert mit Parkleitsystem und Fußballergebnissen, versteht sich. Dies sind die vermeintlichen Zukunftsbranchen: Informations- und Medienindustrie, Kommunikation und Biotech. Lars Windbeutel und Thomas Laffel heißen die neuen blutjungen Chefs, und Steve McJob baut ihnen die Apple-Computer. Ja, new economy, das ist auch ein Jungsding. Welcher Mensch, der ernsthaft alle Drähte korrekt auf der Platine verlötet hat, käme auf die Idee, 20 Stunden am Tag vor einer Computertastatur zu sitzen, die alle zwei Wochen ausgewechselt wird, weil die Tasten von Fast-Food-Öl verklebt sind? Aber mal im Ernst: Eigentlich gibt es gar keine Chefs – ist nicht allerorten von „flachen Hierarchien“ die Rede?

Die neue Internetökonomie spricht eine ebenso neue Sprache, die man nicht im Englisch-Lexikon findet. Absoluter Favorit: „cash-burn-rate“. Allen Ernstes und in der heutigen Sparstrumpfwirtschaft kaum denkbar, wird der Wert eines Unternehmens daran gemessen, wie viel Geld aus dem Fenster fliegt. Je mehr, desto besser. Für die Bank reicht eine Excel-Liste, für die Partner PowerPoint, für die Kundschaft das Tool, solange die Killer-Application noch nicht gefunden ist. Der Umfang, in dem Eigenkapital an den Aktienmärkten im Euroraum aufgenommen wurde, ist von 130 Milliarden Euro im Jahr 1998 auf 320 Milliarden Euro im Jahr 2000 gestiegen, als die Aktienkurse ihren Höhepunkt erreichten. Das rechnet Wim Duisenberg, der damalige Präsident der Europäischen Zentralbank, aus.

Der Glaube an enorme Gewinnpotenziale aus Investitionen in Unternehmen der New Economy führt zu einem Run auf die Aktienmärkte, der „alles Bisherige in den Schatten stellte“ (Duisenberg). Im März 2000 erreicht das Kurs-Gewinn-Verhältnis bei Aktien der Branchen Technologie, Medien und Telekommunikation mit einem Monatsdurchschnitt von 70 seinen Höchstwert. Der Durchschnittswert während der vergangenen 25 Jahre hatte bei 13 gelegen. Der schöne Schein legt sich wie Balsam auf die Seelen der Arbeitnehmer in Deutschland. Gerade haben sie erleben dürfen, wie sämtliche Industriearbeitsplätze (Ost) einer Volkswirtschaft abgewickelt wurden, in der Abwicklung des westdeutschen Arbeitsmarktes stecken sie mittendrin. Da kommt also die neue Ökonomie daher und verspricht Wohlstand ohne Ende. Die Rohstoffquelle der Zukunft heißt Information. Wer sie hat, liegt vorn. Sogar so lästige Berufsgruppen wie Geisteswissenschaftler scheinen hier ein Auskommen zu finden. Denn „wissensbasiert“ ist die neue Arbeit, und es scheint, als habe sich der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit mal wieder aufgehoben.

Ideen werden wahr, wenn nur genug dran glauben. Wem das schnelle Geschäft an der Börse nicht behagt, für den gibt es schon seit 1996 die T-Aktie, die sogenannte Volksaktie, mit der die Telekom blitzschnell und öffentlich akzeptiert privatisiert wird, das Neue trifft das Grundsolide: Dafür steht schließlich der beliebte Schauspieler Manfred Krug im Telekom-Spot mit seinem Namen. Und der ist immerhin seriöser Ermittler im „Tatort“. Erst im Jahr 2007 wird er offiziell zugeben, dies sei sein größter beruflicher Fehler gewesen.

Telekom, Deka-Telemedien, die ganzen schönen Aktienfonds mit dem „Tele-“ vorneweg stürzen im freien Fall. Jetzt rennen die Leute in die Sparkassen, wo man ihnen zum Aufsplitten des Sparschwein-Portfolios geraten hat („Kalifornische Rentenfonds sind was Sicheres“) und rufen: Das kann doch nicht sein! Wo ist mein Geld geblieben? Offiziell ist es verbrannt. Inoffiziell gehen die ganzen schönen kleinen Ideen der Neuen Medien an die großen Konzerne, wo sie seitdem im Keller schlummern. Die Old Economy holt sich zurück, was ihr gehört. Im Herbst 2000 steht fest: The money ran out. Geld brennt nicht, aber rennt. Und zwar: weg. Zweite Erkenntnis: Geld verdient kein Geld, das macht nach wie vor der Mensch. Statt in der After-Work-Disco trifft sich der allerdings nun ganz ohne work zum „First Tuesday“, der Blauen Stunde des Katzenjammers: Da sitzen nun die arbeitslosen Anzüge und Büro-Dirndln, um sich die Wunden zu lecken, mit der Erkenntnis im Kopf: Internetseiten kaufen keine Internetseiten. Und Infos essen keine Infos.

Bald gehört der Begriff New Economy zum alten Eisen, ist gar zum „Schimpfwort“ geworden, sagt Dirk Stettner, ein „First-Tuesday“-Netzwerkler. Aber sie hat eine sehr wichtige Funktion übernommen. Denn während in herkömmlichen Betrieben noch Tarifverträge gelten und Innovationen im Wandschrank landen, lassen sich in der Splitterwirtschaft der vielen kleinen Unternehmen Neuerungen durchsetzen, deren Auswirkungen man bis heute spürt: Die Erwerbsbiografie mit lebenslanger Stellung gehört endgültig der Vergangenheit an. Überstunden ohne Lohnausgleich, in der Dot-Com-Branche freudig, weil mit Aussicht auf viel Erfolg, akzeptiert, wird zum Normalfall. Woran man sich ebenfalls zu gewöhnen hat: neue Beschäftigungsformen, wie sie die neuen Branchen angedeutet hatten: befristet, prekär, in Teilzeit, ohne Betriebsrat, in Scheinselbstständigkeit, ohne Büro, auf Honorarbasis, ohne Kollegen und für lau. Es wird so schlimm, dass selbst das Arbeitgeberlager völlig verunsichert ist: Gegenwärtig sei nur schwer abzuschätzen, „ob die einzelnen Wirtschaftsbereiche die neuen Technologien tatsächlich in dem Maße benutzen werden, wie dies derzeit erwartet wird. Und vor allem, ob die damit verbundenen Veränderungen in der Unternehmenspraxis und in den Geschäftsmodellen auch tatsächlich stattfinden werden“, schreibt Siegfried Utzig vom Bundesverband deutscher Banken in der aktuellen Ausgabe des Zentralorgans Die Bank. Warum? Es ist der menschliche Faktor: Langfristig könne eine Produktivitätssteigerung zwar „nicht verhindert werden“, weil der Wettbewerb Unternehmen, deren IT-Investitionen erfolgreich sind, einen Wettbewerbsvorteil verschaffe. „Aber durch Fehler im Management oder durch den Widerstand und das Beharrungsvermögen bestehender Organisationsformen“, so Utzig, „könnte die Geschwindigkeit des Prozesses insgesamt beeinträchtigt werden.“

Im Klartext: Sosehr man auch dran arbeitet, an der Arbeit führt offensichtlich kein Weg vorbei.

JÜRGEN KIONTKE, 43, ist Journalist und Autor aus Berlin. Die New Economy erlebte er beim digitalen Stadtführer Citikey („Super-Firma“). Und die Börse? Obwohl er fest davon überzeugt ist, dass Geld nicht brennt, ist seins bis heute nicht wieder aufgetaucht.