Kängurus und Kubrick

Norddeutschlands ältestes Kino, das Apollo in Hannover, feiert 100-jähriges Jubiläum. Eine Hommage an ein Kino, das von Asta Nielsen bis zu Kubrick alles gezeigt hat, was Kinogeschichte schrieb. Auch den Schulmädchen-Report. Inzwischen hat man sich wieder auf cineastische Feinkost besonnen

Wilhelmine Kaufmann ging übrigens nie ins Kino. Außer zum Kassieren. Aber sie fuhr jeden Morgen ihre Theater ab

VON MICHAEL QUASTHOFF

Als wir Ende der 1970er Jahre erstmals im Apollo-Kino auf der Limmerstraße saßen, lief Wim Wenders Roadmovie „Im Laufe der Zeit“. Wir sahen wie „Kamikaze“ Robert (Hanns Zischler) und Bruno (Rüdiger Vogler), „the King of the Road“, der Manisch-Depressive und der Melancholiker, mit einem Truck voller alter Projektoren die Zonengrenze hinunterzuckelten. Wir folgten ihnen auf der Kriechspur durch die schwermütige Landschaft, lauschten ihren Gesprächen über Einsamkeit, Frauen und Rockmusik und tauchten ab in die Welt der Provinzkinos. Es waren traurige, sterbende Orte, die ihre Glanzzeit längst unter Pornos und C-Movie-Schrott begraben hatten. Der King hielt sie am Leben, indem er die altersschwachen Vorführgeräte reparierte. Am Ende sagte eine bankrotte Kinobesitzerin: „So, wie es jetzt ist, ist es besser, es gibt kein Kino, als dass es ein Kino gibt, wie es jetzt ist.“ Bruno stieg in seinen Laster und zerriss sein Auftragsbuch.

Von den Lichtspieltheatern, die im Film eine tragende Rolle spielten, stehen nur noch zwei. Das Roxy in Helmstedt und das Apollo in Hannovers Arbeiterbezirk Linden. Das Apollo war zwar nicht im Bild, aber die Projektoren, die King Bruno durch die Gegend kutschierte, hatte er sich in Norddeutschlands ältestem Kino ausgeliehen. Heuer feiert das Apollo seinen hundertsten Geburtstag. Wer in den Archiven gräbt, stößt auf ein Kapitel deutscher Kinogeschichte, ohne das es die popcornschwangere Cinemaxx-Kultur nie gegeben hätte.

Als die 23-jährige Wilhelmine Kaufmann 1908 das Apollo in den ehemaligen Räumen des Tanzsaales Sander eröffnete, war Hannover schon eine boomende Kinostadt. Acht Jahre zuvor hatte der Besitzer des „Einhorn“ im Hannoverschen Tageblatt die erste cinematografische Vorführung annonciert. Bald darauf boten auch Lokale und Varietés wie die Alte Flöte oder das Mellini-Theater Kintopp an. Die „Photographien in vollster Lebenstätigkeit“ mussten sich im Programm noch neben Musikkapellen, Gnomen, Eisenbiegern, dem „Champion im Gummiziehen“ oder ringenden Damenkadern behaupten. Das Hansa-Theater warb mit den Slogan „jeden Sonntagabend werden schon die neusten Bilder vorgeführt, welche die Konkurrenz erst am Sonntag resp. Montag zeigt“, der Kino-Salon präsentierte sein „Sensations-Elite-Programm“. Wilhelmine Kaufmann füllte ihre 300 Sitzplätze mit kurzen Alltagsszenen („Baby lernt laufen“, „Fahrt des Heuwagens“) und Kängurus, die sich zur Klavierbegleitung auf die Köpfe hauten. 1912 starteten dann die ersten Langfilme. Die Stars hießen Asta Nielsen, Pola Negri, Tom Mix oder Harry Piel, der es vom Kunstflieger zum Sensationsdarsteller gebracht hatte.

Die Geschäfte gingen so gut, dass Wilhelmine Kaufmann die Gewinne in ein kleines Kinoimperium investieren konnte. Mitte der 1930er Jahre herrschte sie unter anderem über das Victoria-Theater am Schwarzen Bären, über das „Luna“ in der Nieschlagstraße oder das „Lehrter Lichtspielhaus“, aus dem heute das „Andere Kino“ geworden ist. In den frühen dreißiger Jahren bescherte der Tonfilm dem Kino eine weitere Hausse. In Hannover gab es 32 Lichtspielhäuser mit 18.000 Plätzen, eine Zahl, die, wenn man sie auf die Einwohner hochrechnet, selbst Berlin in die Schranken wies. Daran änderte sich wenig, als die NSDAP begann, „staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvolle Filme“ in die Säle zu drücken. Das rassistische Machwerk „Jud Süß“ brachte 1940 in fünf Wochen 100.000 Besucher, wurde aber locker getoppt von Schmonzetten wie „Der Mustergatte“ mit Heinz Rühmann, „Wiener Blut oder Frauen sind doch die besseren Diplomaten“, einem Marika-Röck-Klassiker, dessen 200.000 Zuschauer bis heute Hannover-Rekord bedeutet dürften.

Wilhelmine Kaufmann ging übrigens nie ins Kino. Außer zum Kassieren. Aber sie fuhr jeden Morgen mit dem Taxi ihre Theater ab und sammelte die Einnahmen des vergangenen Tages ein. Das Ritual hielt sie bis 1944 ein, als ein Bombentreffer den Eingang des Apollo verschüttet. Das Kino blieb bis Kriegsende geschlossen. Frau Kaufmann überlebte die Katastrophe um genau ein Jahr. Nach dem Krieg übernahmen Tochter Jutta und ihr Mann Henk ter Horst den Betrieb. Da die kassenträchtigen Chefarztdramen, Heimatschnulzen und Operetten-Blockbuster damals in der wenige hundert Meter entfernten Schauburg liefen, setzte das Apollo auf Western- und Hardboiled-Qualitätsware. Über die Leinwand ritten John Wayne, Gregory Peck oder Richard Widmark, später sorgte Knautschgesicht Eddi Constantine alias Lemmy Caution für Dicke Luft und heiße Liebe.

So überstand das Apollo die fünfziger Jahre und meisterte auch das erste Kinosterben, das Anfang der 1960er Jahre mit der Verbreitung des Fernsehens einsetzte. Ende des Jahrzehnts konnte sich aber auch Hannovers letztes verbliebene Stadtteilkino nurmehr mit „Schulmädchen-Reports“ mühsam über Wasser halten. Rettung brachte ein zauselbärtiger Jungspund, der eines Tages an der Kasse stand. Sein Name war Achim Flebbe. Er stellte sich als Student, Cineast und Mitglied des hochschulinternen Filmclubs vor. In diesen Eigenschaften bat er darum, ein paar Filmvorschläge machen zu dürfen, die ähnlich strukturierte Charaktere wie ihn garantiert ins Kino locken würden. Warum nicht, dachte Familie ter Horst, schlimmer konnte es ja nicht werden.

Flebbes erster Tipp, Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“, lief am 1. 2. 1973. Der Saal war wochenlang brechend voll. Damit hatte Flebbe einen Jagdschein und bald auch eine Beteiligung. Das Apollo mauserte sich unter seiner Regie zu einem der führenden Programmkinos in Deutschland. Dass Flebbe später zum Kinokönig aufstieg, der dem Apollo und den vom ihm gegründeten Raschplatzkinos mit seiner Cinemaxx-Kette fast das Wasser abgegraben hätte, ist eine weniger schöne Geschichte, die eben auch in der Limmerstraße ihren Anfang nahm, aber wie man hört, auf ein Happy End zusteuert. Nachdem Flebbe als Geschäftsführer des maroden Cinemaxx-Konzerns hinauskomplementiert worden ist, will er sich in Hannover wieder als Programmkinomacher engagieren. Auch im Apollo, denn da hänge immer noch „sein Herz dran“.

Hier hat man solche Zuwendung eigentlich gar nicht mehr nötig. Nachdem ein Großbrand, die Ufa-Schachteln und die Cinemaxx-Offensive überstanden wurden, glänzt das Apollo heute mit cineastischer Feinkost in französischen Hochpolstersesseln, die der neue Geschäftsführer Torben Scheller mit Innovationen wie dem Kinderwagen-Kino oder „DESIMOS Lindener-Spezial-Club“, einer Comedy Show, die wie das Kino notorisch ausverkauft ist, flankiert.

Jubiläumsveranstaltung „100 Jahre Apollo“: Mo, 29. 9., 20.15 Uhr, „Billy Wilder-Abend mit Hellmuth Karasek, anschließend „Eins, zwei, drei“, 15,-/ermäßigt 12 Euro (Infos www.apollokino.de)