Militante Kinobilder

Zeugnisse zur Entstehung dessen, was heute einfach die Banlieue heißt: Die interessante Filmreihe „Kleine Pfade“ lieferte Material für die bis heute schwankende Diskussion um erzieherischen und ausbeuterischen Kolonialismus

Was war eigentlich so verkehrt am Kolonialismus? Nichts, wenn es nach Roger Leenhardts halbstündigem Film „La fugue de Mahmoud“ („Mahmoud, der Ausreißer“) aus dem Jahr 1951 geht. Mahmoud, die Hauptfigur des Films, ist ein senegalesischer Junge im Schulalter, der von einer französischen Lehrerin auf den rechten Weg gebracht wird. Er treibt sich zwar eine Weile herum, arbeitet als Schuhputzer und kommt sogar bis an den Hafen, wo in riesigen Containern die Güter umgeschlagen werden, um die es in der Kolonialordnung auch in diesem Film geht. Dann findet Mahmoud aber doch noch seine Bestimmung. Er wird Mechaniker und sitzt schließlich auf einem großen Traktor, einem der Statussymbole der Moderne.

„La fugue de Mahmoud“ war am vergangenen Wochenende im Haus der Kulturen der Welt in der hochinteressanten Filmreihe „Kleine Pfade“ zu sehen, in der es um das „Kino als Ort der Konstruktion und Zirkulation der Modernen in Europa und Nordafrika vor und nach Marokkos Unabhängigkeit 1956“ ging. Dass das Stichwort von der Moderne hier im Plural steht, ist Programm. Denn es gibt eben nicht nur die von oben verordnete, pädagogische Moderne, von der Leenhardt in seinem kolonialen Werbefilm erzählt.

Es gibt auch die Gewaltmoderne, auf die René Vautier in seinem antikolonialen Agitpropfilm „Afrique 50“ eingeht, entstanden ein Jahr vor „La fugue de Mahmoud“, gedreht im französischen Westafrika. Ursprünglich war nur eine Dokumentation über das Leben in den Dörfern geplant, eine Auftragsarbeit, die unter der Hand zu einem Manifest der Anklage wurde. Vautier lässt sich nicht von der Effizienz des Güterumschlags in einem Hafen ablenken, er nennt die Firmen beim Namen („Compagnie du Niger Francais“ etc.), die von der Ausbeutung profitieren, und er schneidet polemisch das Bild von Geiern dazwischen, die sich über totes Fleisch hermachen. Zwischen diesen beiden Polen, zwischen dem erzieherischen Kolonialismus bei Leenhardt und dem ausbeuterischen Kolonialismus bei Vautier, schwankt bis heute die Diskussion – man denke nur an Versuch des Historikers Niall Fergusons, das britische Empire als zivilisatorische Macht zu rehabilitieren.

„Kleine Pfade“, kuratiert von Brigitta Kuster und Madeleine Bernstorff, nahm Marokko als Ausgangspunkt. Auf einem siebenminütigen Dokument der Firma Pathé aus dem Jahr 1907 sind Bilder vom Einmarsch französischer Truppen in Casablanca und vom Beginn der Okkupation überliefert. Im Konzept der Filmschau ist das die grundlegende Szene, von der aus sich eine Reihe von Pfaden verzweigen, die auch alle eindimensionalen Konzepte von Kolonialismus durchkreuzen. Einerseits haben die beiden Kuratorinnen bei ihren Recherchen in Archiven wie dem Centre Cinématographique Marocain in Rabat oder dem Forum des Images in Paris nach Zeugnissen einer „Zirkulation“ von Modernität gesucht.

Sie haben dabei dokumentarische Filme über sozialen Wohnungsbau in Marokko („Maskan Al Rijal“/„Le logis des Hommes“, Regie: Larbi Bennani, Marokko 1964) gefunden, aber auch frühe Zeugnisse vom Entstehen dessen, was heute einfach die Banlieue heißt.

„Aubervilliers“ (Regie: Eli Lotar, Frankreich 1946) zeigt, in welcher unglaublichen Armut viele Menschen nach dem Krieg ihre Eingliederung in die Industriegesellschaft des französischen Wirtschaftswunders erwarteten. Heute ist Aubervilliers ein Ort, an dem die postkoloniale Ordnung in Frankreich neu verhandelt wird – wie verhält sich der Republikanismus zu der Subjektivität der Kinder von Migranten? Eli Lotars Film aus dem Jahr 1946 war geprägt von einer elegischen Stimmung, das Kino machte sich hier zum Zeugen einer Zeit, die von der Moderne abgekoppelt schien. 1969 machte René Vautier in „Les trois cousins – eux et nous“ deutlich, dass es Elendsviertel nicht nur in der „Dritten Welt“, sondern in Frankreich selbst gibt. Die drei algerischen Cousins Faruk, Hamid und Mohammed sterben in einem improvisierten Schlafraum, weil ihre notdürftige Heizung defekt ist. Sie werden am Morgen tot aufgefunden, und der Rettungswagen, der dann noch vorfährt, wirkt wie ein Alibi für eine verfehlte Politik.

René Vautier, einer der großen Vertreter eines militanten Kinos, war ursprünglich nach Berlin eingeladen gewesen, konnte aber dann doch nicht kommen. Seine Filme gehören in den Kanon, neben Jean Rouch und Raymond Depardon.

BERT REBHANDL