Vorreiter Italien

Das kultivierte Land südlich der Alpen hat stets vorgelebt, was später auch in Deutschland Einzug hielt: Kultur, Kirche – und einen Totalitarismus à la Mussolini. Muss sich die Bundesrepublik auf einen Politikertypus wie Berlusconi einstellen?

von RALPH BOLLMANN

Die Sozialdemokraten waren sich ihrer Sache sicher. Eine Diktatur nach dem Muster der Faschisten, die seit einigen Jahren Italien regierten, sei in Deutschland gänzlich ausgeschlossen.

Das, so glaubte etwa der SPD-Staatsrechtler Hermann Heller, belege schon „Hitlers schlechte Mussolinikopie“. Das Parteiblatt Vorwärts schrieb gar vier Jahre später: „Berlin ist nicht Rom. Hitler ist nicht Mussolini. Berlin wird niemals die Hauptstadt eines Faschistenreiches werden.“ Erscheinungsdatum des Artikels: der 8. Februar 1933.

Was für eine auffällige Parallele: Auch heute sind die meisten Deutschen überzeugt, italienische Verhältnisse seien hierzulande nicht denkbar. Die schleichende Aushöhlung des Rechtsstaats, die Verquickung von Staatsamt und Privatinteresse, die angekündigte Verwandlung der parlamentarischen Republik in ein Präsidialregime: All das erschreckt das übrige Europa auch deshalb nicht, weil es diese Miseren für eine Folge italienischen Schlendrians hält. Haben italienische Gerichte denn je funktioniert? Waren die Beamten im Süden nicht schon immer korrupt?

In Wahrheit waren die Italiener alles andere als kuriose Nachzügler des europäischen Fortschritts. Fast alle wichtigen Ereignisse, die im Italien der vergangenen 150 Jahre eintraten, haben sich wenig später in Deutschland wiederholt: Die Gründung eines Nationalstaats, von den Italienern 1861 vorgeführt, ahmten die Deutschen 1871 nach; Mussolinis „Marsch auf Rom“ von 1922 fand seine deutsche Entsprechung in Hitlers „Machtergreifung“ von 1933.

Dass Italien in Antike, Mittelalter und Renaissance der europäischen Entwicklung voranschritt, ist allgemein bekannt. Kaum jemand wagt zu bezweifeln, dass die Germanen noch im Wald leben müssten – wären sie nicht von römischen Soldaten erobert, von der katholischen Kirche missioniert, von italienischer Kunst und Wissenschaft zivilisiert worden. Doch den Jahrhunderten der Blüte, so will es das Vorurteil, sei eine Epoche des Niedergangs gefolgt.

Deutschland aber eilte der südliche Nachbar auch politisch weiterhin voraus. So eroberte Napoleon zuerst Italien, ehe er sich Deutschland zuwandte. Wenig später fand die Nationalbewegung des „Jungen Italiens“ ihre Nachahmer auch im „Jungen Deutschland“. Im Revolutionsjahr 1848 schließlich gewährte der piemontesische König eine Verfassung, als die Aufstände im kleinstaatlich zersplitterten Deutschland noch gar nicht begonnen hatten.

Frappierend sind vor allem die Parallelen zwischen der Gründung des italienischen Nationalstaats 1861 und der Einigung Deutschlands 1871. Schon die Konstellation der handelnden Personen ähnelte sich verblüffend: Während die Staatsmänner Camillo Graf Cavour und Otto von Bismarck die Fäden zogen, dienten die Monarchen Vittorio Emanuele II. und Wilhelm I. als Identifikationsfiguren des neuen Staates.

Auch für die tiefe politische Erschütterung, die der Erste Weltkrieg in Deutschland auslöste, gab es nur ein einziges Modell. Was für Deutschland die „Dolchstoßlegende“, war für Italien der Mythos vom „verstümmelten Sieg“: Man wähnte sich um die Früchte des Kampfes betrogen. Während sich die Weimarer Republik jedoch bis 1933 retten konnte, war der liberale Staat im Süden bereits elf Jahre früher am Ende: elf Jahre, in denen das italienische Modell intensiv diskutiert wurde.

Sozialdemokraten und Kommunisten lehnten den Faschismus Mussolinis strikt ab, das bürgerlich-liberale Lager zeigte erstaunliche Sympathien für die vermeintliche „Lösung“, die Italien für seine politische Krise gefunden hatte. Sogar der linksliberale Publizist Theodor Wolff rühmte den Duce als Realpolitiker ohne „nationalistische Eitelkeit“.

Der Historiker Wolfgang Schieder spricht deshalb von einem „ausgesprochen philofaschistischen Meinungsklima“ in der Weimarer Republik. Die meisten glaubten jedoch, in Deutschland seien italienische Verhältnisse so gut wie ausgeschlossen.

Das dachten die meisten Deutschen auch, als im Frühjahr 1992 das Gesicht des Mario Chiesa über ihre Bildschirme flimmerte. Es handelte sich um den Geschäftsführer des größten Mailänder Altenheims. Seine Verhaftung brachte jenen Skandal ins Rollen, der unter dem Namen „Tangentopoli“ das alte, korrupte Parteiensystem einstürzen ließ.

Doch damit begann der Niedergang der Konservativen in ganz Europa. 1996 kam in Italien erstmals die Linke an die Regierung, 1997 gewannen Tony Blair und Lionel Jospin die Wahlen in England und Frankreich, 1998 folgte Gerhard Schröder in Deutschland. Wenig später betrat in Gestalt des Waffenhändlers Karlheinz Schreiber ein deutscher Mario Chiesa die Bühne, und die überraschte Öffentlichkeit erfuhr, dass die CDU-Vorsitzenden seit den Zeiten Konrad Adenauers ihre innerparteiliche Macht mit Hilfe schwarzer Kassen gefestigt hatten.

Die deutsche Christdemokratie ging, anders als ihre italienische Schwesterpartei, im Strudel dieses Skandals zwar nicht unter. Aber die Identitätskrise, die konservative Parteien derzeit in ganz Europa durchmachen, ist auch bei der CDU/CSU noch lange nicht beendet.

In Italien gelang es dem Medienunternehmer Silvio Berlusconi, die entstandene Lücke im Parteiensystem zu füllen. Und sein Beispiel gilt keineswegs bei allen Konservativen, die in Deutschland nach Wegen in die Zukunft suchen, als abschreckend. Denn erst seit Silvio Berlusconi im Mai 2001 die italienischen Wahlen gewann, kann die politische Rechte in Europa wieder Hoffnung schöpfen. Zu jenem Zeitpunkt hatte unter allen wichtigen EU-Staaten nur Spanien einen konservativen Regierungschef. Mit Berlusconis Sieg begann eine Serie von Erfolgen, die über Den Haag und Paris beinahe auch zu einem Machtwechsel in Berlin geführt hätte. Ausgerechnet von Italien, wo Anfang der Neunziger die Krise der europäischen Konservativen begonnen hatte, geht ein Jahrzehnt später ihr politischer Wiederaufstieg aus.

Da verwundert es nicht, dass sich die europäischen Freunde jeder Kritik an den Methoden dieses Aufstiegs enthalten – ja dass sie, ganz im Gegenteil, diesen Aufstieg nach Kräften förderten und fördern. Sie fürchten, jede Kritik an Berlusconis Führungsstil könne leicht in Kampagnen gegen die Rechte insgesamt umschlagen. Vor allem der Exkanzlerkandidat Edmund Stoiber und seine CSU bemühten sich stets um enge Allianz mit Italiens Regierungschef.

Aber auch Helmut Kohl hatte schon zu seinen Zeiten als Bundeskanzler die Aufnahme von Berlusconis Forza Italia in die Europäische Volkspartei (EVP) durchgesetzt. Und der kurz zuvor entmachtete CDU-Chef Wolfgang Schäuble riet kurz vor der italienischen Wahl den Lesern des Mailänder Corriere della Sera, sie sollten sich durch das Gerede um Berlusconis Interessenkonflikte nicht beirren lassen. Schließlich sei auch die SPD an Zeitungsverlagen beteiligt.

Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung adelte Gerhard Schröder gleich ganz direkt zum „deutschen Berlusconi“. Den Anlass boten die Bemühungen von Exkanzleramtsminister Bodo Hombach, der WAZ-Verlagsgruppe Anteile am Axel-Springer-Verlag zu sichern. Wäre die Operation geglückt, so die FAZ, hätte der deutsche Regierungschef eine ähnliche Medienmacht gewonnen wie Berlusconi.

Mit derlei abstrusen Debatten über die Medienmacht der SPD versuchen Konservative ein Phänomen greifbar zu machen, für das sie noch immer keine Erklärung haben: den Erfolg des Medienkanzlers Gerhard Schröder, der selbst in scheinbar aussichtsloser Lage Stimmungen einfach umdrehen kann.

Berlusconi erscheint Europas Rechten als logische Antwort auf den neuen Politikstil der einstigen Linksparteien. Besser als Schröder oder sein britischer Amtskollege Tony Blair kann man auf der Klaviatur der Medien gar nicht spielen. Übertrumpfen lässt sich das nur, wenn man die Zeitungen und Fernsehsender gleich selbst besitzt.

Es wird für die Konservativen immer schwerer, sich mit seriöser Programmatik von der Sozialdemokratie neuen Stils abzugrenzen. Berlusconi war der erste, der daraus die klare Konsequenz gezogen hat, auf Programmatik lieber zu verzichten. Das neue Rezept lautet, allen alles zu versprechen, davon möglichst nichts zu halten – und das Ganze mit möglichst viel Lärm zu verkaufen.

Auch bei den deutschen Christdemokraten wird die Tendenz immer stärker, sich in eine populistische Radaupolitik zu flüchten. Unterhaltung tritt an die Stelle der Politik, wie ein saarländischer Ministerpräsident mit Bemerkungen über Politinszenierungen im Bundesrat en passant einräumte. Auch der Untersuchungsausschuss zum Thema Wahlkampflügen, vom hessischen Spendenlügner Roland Koch maßgeblich vorangetrieben, gehört in diese Kategorie.

Nicht nur programmatisch wird die Abgrenzung zu rechten Populisten fließender. Wenn Hamburgs Innensenator Ronald Schill den CDU-Bürgermeister der Hansestadt mit unflätigen Ausfällen im Bundestag blamiert, ist das mehr als nur eine äußerliche Parallele zu jenem Rechtspopulisten Umberto Bossi, für dessen chauvinistische Sprüche sich Berlusconi bei den europäischen Partnern rechtfertigen musste.

All das spielt sich im Rahmen eines Rechtssystems ab, das wohl nirgends in Europa so sehr an Rückhalt in der Bevölkerung verloren hat wie in Italien und Deutschland. Nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen Steuersätzen und bezahlten Steuern so hoch wie in diesen beiden Ländern. In Italien führte das dazu, dass Berlusconi mit seinen Eingriffen in den Rechtsstaat auf relativ wenig Widerstand stieß – und stößt.

Wo praktisch jeder ständig gegen Gesetze verstößt, bleibt es dem Zufall überlassen, welche Verstöße geahndet werden und welche nicht. Solange Jürgen Möllemann von seinen Parteifreunden als nordrhein-westfälischer Wahlsieger gefeiert wurde, fragte niemand nach, woher die nötigen Gelder für die erfolgreiche Kampagne kamen. Erst als der Mann in Ungnade gefallen war, schien Zeit, die Belege zu prüfen.

In der Öffentlichkeit hinterlässt das den Eindruck, Politiker seien ohnehin alle korrupt. Das ist ungefähr der Bewusstseinsstand, auf dem die italienische Debatte zu Beginn der Neunziger angekommen war – als Berlusconis politische Karriere begann.

RALPH BOLLMANN, geboren 1969, studierte Geschichte in Tübingen, Bologna und Berlin. Zurzeit leitet er das taz-Inlandsressort