Von Dorau bis Händel

Wenn die Worte fehlen, wird gesungen: Die Neuköllner Oper wirft mit den „Referentinnen“ von Matthias Rebstock und Tilman Rammstedt einen Blick hinter die Kulissen des Politikmachens und der Angestelltenkultur

Bei Siegfried Kracauer galt die moralisch-rosa Hautfarbe als wesentliche Voraussetzung der neuen Schicht der Angestellten, die sich in den Zwanzigerjahren herausbildete und zu einem guten Teil aus Frauen bestand. Durch das Unschuld signalisierende Rosa sollten wohl die Schattenseiten der modernen Bürokratisierung überdeckt werden. Achtzig Jahre später haben sich nicht nur Karrierevorstellungen, sondern auch Anforderungsprofile verschoben.

In der Neuköllner Oper sind jetzt sechs junge Frauen von heute bei ihrer Arbeit zu beobachten. Die hat auch jede Menge mit Akten zu tun, die Ziele von allen aber waren mal viel ambitionierter. In die Politik gehen wollten sie und zumindest ein paar Probleme der Welt lösen. Nun stehen sie zwar nicht im politische Rampenlicht, halten aber immerhin das Geschehen von hinten am Laufen: „Referentinnen“ heißt die neue Produktion des Ensembles leitundlause, die in einer Mischung aus Dokumentartheater und musikalischer Revue „Geschichten aus der zweiten Reihe“ erzählen will.

Geschichten über diejenigen, die auf drei Leitungen gleichzeitig telefonieren, Autokonvois koordinieren, Hubschrauberlandeplätze organisieren und nebenbei die großen und kleinen Probleme der Welt in Aktennotizen und Exposés erörtern.

Regisseur Matthias Rebstock und sein Mitautor, der diesjährige Bachmannpreisgewinner Tilman Rammstedt, haben ihrem Stück ein Setting zugrunde gelegt, durch das man diese Arbeit im Hintergrund mal etwas genauer beobachten kann. Die Fernsehkameras sind noch aus, die Minister noch nicht angereist und die Referentinnen haben dafür Sorge zu tragen, dass ein reichlich antiquiertes Schlosshotel bis zum Regierungsgipfel am kommenden Tag auf den neuesten sicherheitstechnischen Stand gebracht wird.

Die üblichen Abläufe aber kommen ins Holpern. Hier, wo statt Laptopoberflächen barocke Gemälde die Räume zieren und wo sich statt der endlosen Gänge der Ministerien ein grüner Park erstreckt, vergessen auch die Referentinnen ein ums andere Mal ihr strenges Zeitmanagement und geraten ins Grübeln darüber, wofür sie sich da eigentlich Tag für Tag von früh bis spät abrackern. Sie wisse wirklich ganz sicher, wie man die Welt besser machen könne, versichert eine der namenlosen Referentinnen. Nur falle ihr das leider gerade nicht ein.

Wenn die Worte fehlen, wird gesungen. Von Andreas Dorau bis Händel, begleitet durch ein Bläsertrio und unter Einsatz aller Requisiten und Bühnenteile. Aktenordner und künstliche Buchsbäume können bisweilen erstaunliche rhythmische Qualitäten erlangen.

Echte Frauenpower

Projekte, wie man sie durch die bundesrepublikanischen Bestandsaufnahmen der Gruppe Rimini-Protokoll kennt, mögen eine größere inhaltliche Tiefe erlangen. Dieser Abend aber funktioniert auf einer anderen Ebene: Hier geht es nicht so sehr um die Analyse, stattdessen um die theatralischen Mittel und über eine über weite Strecken bestechende Komik.

Man sieht diesen Frauen, die über gut zwei Stunden für und gegeneinander kämpfen, singen und tanzen, nur allzu gern zu. Bei Bärbel Schwarz und Ursula Renneke tut man es besonders gern.

Dass sie das alles auf halsbrecherisch hohen Pumps absolvieren, weiß vielleicht nur wirklich zu schätzen, wer sich je mehr als ein paar Meter auf diesen Dingern fortbewegt hat. So viel Schmerzen würde kein Mann ertragen. Das ist echte Frauenpower.

Die Sache mit der moralisch-rosa Hautfarbe hat sich dadurch allerdings noch immer nicht erledigt.

Wenn die Referentinnen mal wieder vor der versammelten Presse eine Regierungskrise wegreden müssen, dann bleibt der unschuldige Teint, durch den Kracauer seinerzeit die Moderne eingeläutet sah, auch im neuen Jahrtausend unerlässlich.

WIEBKE POROMBKA

Nächste Vorstellungen: 4. bis 7., 11. bis 13. und 18. bis 21. September, jeweils 20 Uhr, Neuköllner Oper