Bei Aufmüpfigkeit Sterilisation

Mindestens 2.574 Menschen wurden während der NS-Zeit im Oldenburger Land zwangsweise sterilisiert. Der ostfriesische Lehrer Martin Finschow hat ihre Geschichte ausgeleuchtet und aus seinen Forschungen eine Doktorarbeit gemacht

„R. war schadenfroh, bockig und feige, mürrisch, frech, ein kindischer Sonderling ohne Trieb und Wille.“ Der Hilfsschullehrer nutzte die Gelegenheit weidlich, seinen ungeliebten ehemaligen Schüler noch einmal abzustrafen. Sein Zeugnis diente dem Erbgesundheitsgericht als Grundlage dafür, jenen R. zwangsweise sterilisieren zu lassen – wegen „angeborenen Schwachsinns“. Dass der Lehrer da auch das eigene pädagogische Versagen einräumte, kam ihm nicht in den Sinn: Die Sonderpädagogik des „Dritten Reichs“ sah ihre Aufgabe in der Selektion, wie Martin Finschow in seiner Dissertation über Zwangssterilisationen im Oldenburger Land zeigt. In der Selektion zwischen etwas schlicht gestrickten Volksgenossen einerseits, die sich dennoch nützlich machen könnten, und andererseits den „Unwertigen“, deren Fortpflanzung im Interesse des gesunden Volkskörpers zu unterbinden sei.

Martin Finschow ist selbst Lehrer, an der Freien Christlichen Schule Ostfriesland. Für sonderpädagogische Fragen haben ihn die Erfahrungen seiner beeinträchtigten Nichte sensibilisiert, erzählt er. „Die Sonderpädagogik muss weg vom Nützlichkeitsdenken“, sagt er und dass Integrativer Unterricht „richtig viel Geld“ koste – da werde heute noch geknausert und gefragt, was das der Allgemeinheit denn bringe.

Bei der Einweihung eines Denkmals lernte Finschow Ingo Harms kennen, der in den 1990er Jahren damit begann, die Euthanasie-Morde im Oldenburger Land aufzuklären. Als er dem Gymnasiallehrer aus Westerstede vorschlug, eine Doktorarbeit über die Sterilisationspolitik zu schreiben, war Finschow erst mal perplex. Dann vereinbarte er mit der Schule, seine Unterrichtsstunden auf vier Tage zu verteilen. Seine Frau schulterte die Familienarbeit, während Finschow in die Archive abtauchte. Einen „überschaubaren Batzen“, so Finschow, hatte er durchzuackern: die „rund 2.000 Akten“, die überhaupt erhalten geblieben waren.

Es hat sich viel getan in der Oldenburger Erinnerungskultur, seit der Leiter des Gesundheitsamtes 1995 genau die Akten vernichtete, die Harms zu Forschungszwecken angefordert hatte. Einzig vom Landeshauptarchiv Koblenz erhielt nun Finschow eine Absage: Der Justitiar lehnte das Ersuchen mit der Begründung ab, dass vor Einsichtnahme alle Namen in den dort lagernden Oldenburger Akten geschwärzt werden müssten. Und das sei aus „arbeitsökonomischen Gründen“ unmöglich.

2.574 Sterilisationen unter Zwang zählte Finschow. Entgegen früherer Schätzungen, die Harms aufgrund des besonderen Euthanasie-Enthusiasmus der Oldenburger Ärzte angestellt hatte, liegt die Zahl im Reichsdurchschnitt. Der Kampf der Betroffenen um Rehabilitation indes war oft genug vergeblich: Die Erbgesundheitsgerichte existierten weiter, das Erbgesundheitsgesetz wurde bis heute lediglich geächtet, nicht aber annulliert. Wer in den 1950er Jahren darauf klagte, die Folgen des Eingriffs rückgängig zu machen, saß häufig denselben Gutachtern und Richtern gegenüber wie ein Jahrzehnt zuvor. Und die vermerkten, im selben Jargon, die Grundlage ihrer Entscheidung – Konstrukte „vererbbare Fallsucht“ oder „moralischer Schwachsinn“ – habe sich nicht geändert. ANNEDORE BEELTE

Martin Finschow: Denunziert, kriminalisiert, zwangssterilisiert. Opfer, die keiner sieht – Nationalsozialistische Zwangssterilisationen im Oldenburger Land, Verlag Isensee, 24,80 Euro