die gelben seiten
: Tränen sind der letzte Schrei

Sportler flennen ständig: Wenn sie gewinnen oder verlieren. Wenn sie gesund sind oder verletzt das Stadion verlassen

Fürs Lächeln sind Chinesen bekannt, nicht fürs Weinen, erst recht nicht fürs Weinen in aller Öffentlichkeit. Deshalb fragt ein Diskutant in dem Forum www.cat898.com allen Ernstes, warum so viele chinesische Sportler und Sportlerinnen heutzutage so gern zu allen Anlässen flennen: Wenn sie Medaillen gewinnen oder verlieren; wenn sie gesund oder verletzt das Stadion verlassen; wenn das Publikum frenetisch Beifall klatscht. Manchmal werden die Tränen gar noch tränenreich durch Radio- und TV-Moderatoren kommentiert. Was ist los mit uns Chinesen, haben wir sie noch alle? Das waren und sind die Fragen.

Die Antworten kamen zunächst kurz und bündig: Klar, schreibt einer, man müsse weinen, da es letztlich ums Geld geht. Einmal Gold, plus Werbeeinnahmen, plus Fernsehrechte, plus Spenden, plus Clubauftritte, das kann einem schon zu Kopf steigen. Nicht zu vergessen, so ermahnt gleich ein zweiter, sei noch der Effekt auf das jeweils andere Geschlecht. Tja, wenn du über Nacht Nationalheld oder Nationalheldin wirst, kannst du gleich sehen, wie zarte oder hartgesottene Typen auf dich fliegen. Scheiterst du aber, wird schnell deutlich, wie sich alle, die vorher auf dich geflogen sind, wieder von dir entfernen. Allmählich kommt der Dritte auf einen etwas anders gelagerten Gedanken: Wenn du Sport als Beruf betreibst, außer Rennen sonst gar nichts hast, dann musst du auch flennen, wenn du nichts gewinnst und schon deshalb alles verlierst, oder? Bist du hingegen Arzt, kannst du über die verlorengegangene Medaille lächeln, Schwamm drüber. Sind alle chinesischen Berufsrenner, deshalb Berufsflenner?

Mitnichten, räsoniert der Vierte. In aller Öffentlichkeit weinen, ist in China die größte Mode. Es fängt ganz oben mit dem Premier an, der im Erdbebengebiet geweint hatte, und unten in der Kohlengrube im Angesicht abgestürzter Stollen. In der Mitte der Gesellschaft siehst du korrupte Kader im Gefängnis reumütig weinen, warum bloß bin ich nicht rechtzeitig abgehauen? Verwundert es, wenn nun in den Stadien ebenfalls Tränen vergossen werden? Wer will schon den Anschluss an den letzten Schrei verlieren?

Shi Ming, 51, kommt aus Peking und lebt als Journalist in Köln