Sieglose Stoiker

Schweden wird die Spiele wahrscheinlich mit der schlechtesten Medaillenbilanz in seiner Geschichte abschließen. Kritik hört man trotzdem kaum. Die Skandinavier konzentrieren sich statt auf Eliteförderung auf den Breitensport

STOCKHOLM taz ■ „Eine Ära der schwedischen Leichtathletik ist vorbei.“ – „Die schlechteste Sommerolympiade aller Zeiten.“ – „Aus der Traum!“ – Olympiaerfolge der blau-gelben SportlerInnen konnten die schwedischen Zeitungen ihren LeserInnen diesmal nicht verkaufen. Stefan Holm nur Vierter beim Hochsprung. Dreisprung-Olympiasieger Christian Olsson wegen Verletzung gar nicht erst nach Peking gereist. Die Sprint-Hoffnung Susanna Kallur bei der ersten Hürde gestürzt. Zwei Tage vor Abschluss der Wettkämpfe kein Gold.

In Athen und Sydney standen schwedische SportlerInnen je viermal ganz oben auf dem Siegertreppchen, im Schnitt aller Sommerolympiaden sogar 5,6-mal. Nun wird es wohl weniger als das halbe Gold, das es 1900 in Paris gab – da teilte sich eine gemischt schwedisch-dänische Mannschaft beim Tauziehen das Edelmetall. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird es die schlechteste Bilanz seit 1896 werden. Das Wunder könnte allenfalls Carolina Klüft heißen. Für die heute ab Viertel nach eins ganz viele Schweden die Daumen drücken werden. Ob das helfen wird? Die Siebenkampf-Rekordgewinnerin tritt nämlich im Weitsprungfinale und damit in der „falschen“ Disziplin an.

Den einen oder anderen Blick habe sie schon auf ihre früheren Siebenkampf-Konkurrentinnen geworfen, gestand Klüft vor einigen Tagen. Zwangsläufig. Dieser Wettbewerb lief nämlich teilweise parallel zur Dreisprung-Qualifikation, die sich für Klüft zu einem Albtraum entwickelte. Grobe Anfängerfehler machte sie, „ich bin gehüpft wie eine Krähe“, kritisierte sie sich selbst, und mit einem zwanzigsten Platz hatte sie nie die Chance auf eine Finalteilnahme. Trotzdem habe sie auch da ihre Entscheidung nicht bereut, beteuerte sie.

Im März hatte Klüft ihren Siebenkampf-Verzicht verkündet. Physisch und mental mache der Körper nicht mehr mit. Künftig wolle sie sich nur noch auf den Weit- und Dreisprung konzentrieren. Und schon damals vermuteten viele KommentatorInnen, dass ihre Goldmedaille bei der WM im August vergangenen Jahres in Osaka dann wohl auch die letzte ihrer Leichtathletikkarriere war. Die jetzt Fünfundzwanzigjährige hatte jahrelang den Siebenkampf dominiert wie keine Sportlerin vor ihr. Dreimal wurde sie Weltmeisterin, zweimal Europameisterin, in Athen holte sie olympisches Gold. Klüft gewann alle 19 Siebenkampf-Wettkämpfe ihrer Karriere.

Neben ihrer Leistung punktete die blonde Schwedin vor allem mit ihrer Ausstrahlung. Sie machte den Siebenkampf zu einer regelrechten Show. Den offensichtlichen Spaß, den sie am Wettkampf zu haben schien, konnte sie nicht nur auf ihre Mitkonkurrentinnen, sondern auch auf das Publikum übertragen. „Der Spaß ist die Basis meiner Erfolge“, betonte sie immer wieder in Interviews. Und plötzlich das Eingeständnis, dass alles nur eine Quälerei wäre, die sie glücklicherweise hinter sich gelassen habe?

Der Idolstatus ist vergänglich. In vielen Kommentaren wurde ihr der Verzicht regelrecht übel genommen. Eine „sichere“ Goldmedaille für Schweden habe sie „weggeworfen“, lautet ein jetzt noch zu hörender Vorwurf. Und nach der Dreisprung-Pleite musste sich das schwedische Olympiakomitee fragen lassen, wieso man eine Sportlerin zu einer Disziplin schicke, deren Technik sie nicht einmal richtig beherrsche.

Selbst wenn sie heute ihre KritikerInnen mit einer guten Platzierung noch ein wenig besänftigen sollte: Mit der Aussicht auf vierte oder sechste Plätze zu den großen Leichtathletikevents rund um die Welt zu reisen – das wird „Carro“ nicht lange Spaß machen. Dafür hat sie zu oft gewonnen. Ein nahezu gleichzeitiges Karriereende der drei Großen der letzten Jahre, Holm, Olsson und Klüft, ist in Sichtweite.

Und Schwedens Leichtathletik? „Die kommt auch wieder nach oben“, sagt Agne Bergvall, Klüfts Trainer: „Wir hatten acht fantastische Jahre.“ Selbst nach der „Pleite“ in Peking gibt es nur vereinzelt Stimmen, die eine Neuausrichtung der schwedischen Sportpolitik fordern. Die statt auf teure Leistungszentren und Eliteförderung immer noch vorwiegend auf Breitensport und viel ideelle Arbeit setzt. „Im Prinzip sind Erfolge ja vor allem Zufälle“, tröstet Mats Olsson, Sportkommentator des Stockholmer Expressen, unter Hinweis auf verstolperte Chancen, geplatzte Schwimmanzüge und plötzliche Wehwehchen: „Und schließlich produzieren wir ja tolle Eishockeyspieler.“

REINHARD WOLFF