„Anderssein als Inspiration“

Das Tanzwerk bietet Tanztheater für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung – bisher einzigartig in Bremen

Dröhnend stampfen Helenes nackten Füße im Takt der Techno-Musik auf dem Parkettboden. Sie schleudert die Arme zur Seite, boxt mit der Faust in die Luft. Die Gruppe hinter ihr folgt ihren Bewegungen, stampft hinter ihr her durch den Saal, imitiert ihren Hüftschwung. Dieser Hüftschwung ist typisch für Helene. Wenn sie geht, fällt er auf. Meistens sitzt Helene im Rollstuhl.

Silva hat heute keine Lust auf Gruppenspiele. Die Pause verbringt sie sitzend vor dem Spiegel. Sie wartet ihren großen Moment am Ende der Tanzstunde ab. Dann gibt sie eine Soloshow, und die Bühne gehört für ein paar Minuten nur ihr.

„Silva ist die typische Solokünstlerin“, sagt Inga Becker, Tanzpädagogin und Gründerin der integrativen Gruppe „Die Anderen“, die sie zusammen mit der Theaterpädagogin Alexandra Benthin leitet. Seit 2005 bietet das Tanzwerk Bremen in Kooperation mit der Aktion Mensch Tanztheater für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung an – bislang einzigartig in Bremen. „Wir fassen das Anderssein nicht als Manko auf, sondern als Potenzial, aus dem sich neue Ideen entwickeln lassen“, erklärt Inga Becker den Namen des Projekts. Sie interessiere sich nicht für Krankengeschichten, sondern dafür, welche Eigenarten und Kompetenzen jeder Einzelne mitbringe. „Die Kinder nehmen hier eine neue Position ein, häufig eine, die ihre Eltern ihnen gar nicht zugetraut hätten.“

Bei der Probe der Anfängergruppe „Starters“ ist heute die Wirbelsäule dran. Die Acht bis Sechzehnjährigen erforschen ihre Gelenke, drehen und winden ihre Körper zu rhythmischer Musik. Aus der freien Improvisation wird nach und nach die erste Choreografie entwickelt.

„Im ersten Jahr machen wir vor allem Improvisation. Hier können auch noch neue Teilnehmer hinzukommen. Im Jahr darauf entwickeln wir ein Stück zum Thema „Lebenswege“, und im dritten Jahr geht’s auf die Bühne“, sagt Inga Becker.

Die „Starters“ sind bereits die zweite Generation des Projekts „Die Anderen“. Die erste Generation, nun bekannt als „Die Anderen Compagnie“, brachte 2007 ihr Stück „4 Asse für einen Kuss“ auf die Bühne. Dank des großen Erfolgs der Produktion, die den Förderpreis der „start JugendKunst Stiftung Bremen“, den ersten Preis der Weserterrassen-Stiftung sowie den Eva-Seligmann-Förderpreis bekam, konnte ein weiteres 3-Jahres-Projekt begonnen werden. „Es ist schade, dass es bisher so wenig integratives Tanztheater für Kinder und Jugendliche gibt“, sagt Inga Becker, die durch die Anfrage einer Mutter angeregt wurde. „Bedarf gibt es schließlich in jeder Stadt.“

Annabel Trautwein