Einwanderung ins Wattenmeer

Vielfraßqualle und Pazifikauster: Der Klimawandel und die Globalisierung bescheren der Nordsee einen atemberaubenden Zuwachs an „neuen“ Arten. Experten freuen sich über die Vielfalt, sehen aber auch schwer zu lösende Integrationkonflikte

VON RAINER BORCHERDING

Der Einsiedlerkrebs, die Schwimmkrabbe, die Rippenqualle – wer Urlaub an der Nordsee macht, kannte diese Tiere. Aber ab sofort müssen neue Namen gelernt werden: Ottermuschel, Felsenkrabbe, Pinselkrabbe und Schwarzgrundel, Japanischer Knötchentang und Keulenseescheide. Wer diese Arten in seinem Strandführer nachschlagen möchte, wird bald merken, dass alle Bestimmungsbücher der Nordseeküste ab sofort Makulatur sind.

Denn Klimawandel und Globalisierung bescheren dem Wattenmeer derzeit einen atemberaubenden Zuwachs an „neuen“ Arten. Seit die Winter an der Küste nicht mehr richtig kalt werden, können sich hier Arten ansiedeln, die bisher im Watt nicht überlebensfähig waren. Um fast 2 Grad ist die Nordsee im Winter wärmer als früher. Für Meerestiere ist das eine Menge. Schon vor zehn Jahren war vorausgesagt worden, dass eine solche Erwärmung unserer Küste etwa 20 Prozent neue Arten bescheren würde. Nun ist die Bescherung da.

Mit einer Mischung aus Faszination und Sorge machen sich Meeresbiologen und Wattführer derzeit fast monatlich mit den Eigenarten neuer Tier- und Algenarten bekannt. So frisst die Japanische Felsenkrabbe auf Felsgrund 80 Prozent der jungen Strandkrabben weg. Die Mexikanische Vielfraßqualle hat im Schwarzen Meer die Heringsfische um 90 Prozent reduziert.

Die Reiserouten, über die die neuen Arten einwandern, sind verschieden: Einige Spezies kommen aus der südwestlichen Nordsee und breiten sich im Zuge der Erwärmung ganz natürlich mit der Meeresströmung im Flachwasser aus. In diese Gruppe gehören die Plattfußkrabbe, der Diogenes-Einsiedler und die Ottermuschel. Auch ein Vordringen aus der tieferen, schon länger frostsicheren Nordsee bis in das Wattenmeer kommt vor, zum Beispiel bei Tieren wie Schwarzgrundel und Kleinem Petermännchen, zwei Fischarten.

Dramatischer sind Einschleppungen aus fernen Ozeanen, da die Exoten beim Zusammentreffen mit der hiesigen Fauna ungeahnte Effekte hervorrufen können. Fieberhaft forschen Fischereibiologen in Kiel und anderswo an der Mexikanischen Vielfraßqualle, um herauszufinden, ob sie in Nord- und Ostsee die Fischbestände ebenso verheerend vernichten kann, wie sie es nach ihrer Einschleppung im Schwarzen Meer getan hat.

Das Ökosystem Wattenmeer hat sich in der Vergangenheit als recht tolerant gegen Einschleppungen erwiesen. Schwertmuschel, Pantoffelschnecke, Beerentang und Wollhandkrabbe stehen selbstverständlich in allen Bestimmungsbüchern und haben sich störungsarm integriert. Die Sandklaffmuschel haben sogar schon die Wikinger eingeschleppt.

Doch die Meereserwärmung und die Globalisierung mit Muschelimporten und Schiffsverkehr sorgen für konflikreichere Integration. Die Pazifikauster, die täglich vielen Wattwanderern einschneidende Erlebnisse an den Fußsohlen beschert, ist ein Beispiel für eine neue Art, die den Lebensraum nachhaltig verändert. Sie besiedelt zu Millionen die Wattflächen, wo früher Miesmuscheln lebten. Nur leider können weder Vögel noch Krebse die Auster fressen.

Außerdem erschwert sie wahrscheinlich der Miesmuschel, die durch die warmen Winter geschwächt ist, eine Wiederausbreitung im Wattenmeer. Geschädigt sind damit die Vögel, die an die Miesmuschel als Futter angepasst waren und nun eine schlechtere Nahrungsgrundlage im Watt finden.

Die Zukunftsperspektive für die Nordsee und die Nationalparks im Wattenmeer ist ungewiss: Die Artenvielfalt wird definitiv weiter zunehmen, was für Wattwanderer und spielende Kinder durchaus eine Bereicherung sein kann. Der Diogenes-Einsiedler ist ein gar putziges Kerlchen, und kein heimisches Meerestier verursacht so helles Meeresleuchten wie die Vielfraßqualle. Das sogt für romantische Illumination beim nächtlichen Bad in der Nordsee.

Falls aber eine giftige Alge oder Qualle eingeschleppt wird, könnte sich die Belustigung schnell in Schrecken und finanzielle Einbrüche wegen des Ausbleibens von Touristen verwandeln. Die aktuelle Quallenplage im Mittelmeer gibt eine Vorahnung davon.