ausgehen und rumstehen
: Durch Obamas Ohr scheint die Sonne. Bei einer Loftprobe am Rosenthaler Platz

Marcel Proust verbarrikadierte sich in seinem Korkzimmer, Uwe Johnson auf seiner Kanalinsel. Und ich stehe hier schon wieder zwischen rosé Prosecco und rosigen Dekolletées. Aber dieser Hirsesalat ist auch zu köstlich. Dabei ist der Trick ganz einfach: ein bisschen Limettensaft dazugeben. Und in den Wraps ist so ein matt erdiges Gewürz, das ihnen eine ganz unasiatische Vollmundigkeit gibt. Gleich noch einen. Ja, danke, den Teller können Sie gern entfernen. Nach dem ganzen metallischen Reflektieren ist matt sowieso das Adjektiv der Stunde. Alles andere ist neureich.

Wir stehen in einem frisch renovierten Loft am Rosenthaler Platz. Hier sollen Gruppen von 6 bis 20 Personen in Zukunft ihre Meetings abhalten – in produktiv genießerischer oder genießerisch produktiver Atmosphäre. 600 Euro der Tag ohne Koch. Heute Abend läuft die Generalprobe für Multiplikatoren. Mulitplikatoren? Ein schreckliches Wort. Freunde des Hauses, natürlich. Die deckenhohen Schrankwände sind mit grauem Krokostruktur-Imitat überzogen. Da möchte man mal von einer eisernen Businesslady im Knutschanfall gegengepresst werden. A., die Interieurdesignerin mit der Charakternase, hat hier reingestellt, was sie zusammengesammelt hat. Konzept? Das wäre viel zu gezwungen. Besonders gelungen ist die Themenlandschaft Biedermeiersesselchen mit Kuhfellbezug und Birkenstumpf als Beistelltisch. Ich inspiziere mit R., der für Villeroy & Boch Kampagnen entwirft, das Badezimmer: „Ah, Armaturen von Villeroy & Boch, das nenne ich ein Statement für solide Usability in der Nasszelle und gegen Luxusquatsch“, attestiere ich. R. lässt den Klodeckel klacken. Ein mattes, volumiges Plop. Da haben wir es wieder: matt. „Genau gegenüber sind noch frisch renovierte Lofts frei“, weiß R., „11 Euro kalt der Quadratmeter. Und so miserabel renoviert. Die setzen alles auf die Lage. Die Ausstattung ist Trash, Trash, Trash. Wo hängt der Heizkörper? An der einzigen freien Wand, an die man auch mal was stellen könnte.“

Im Hauptraum verfolgen die Gäste auf dem Sony-Plasmabildschirm die Rede von Barack Obama an der Siegessäule. „My father grew up herding goats in Kenya.“ – „Puhh“, stoße ich M. an, die Innenarchitektin mit dem Pinguinbaby-Flaum am Kinn, die für den wirtschaftlich-politischen Interessensverband „Create Berlin“ Ausstellungen einrichtet, „was für ein schäbiger Schaumschläger. Ziegenhirte, biblische Scheiße.“ – „Und das von einem Typen, der sich von den kleinen Leuten seine Wahlkampfgelder via Internet zusammenstottern lässt und dann auf ihnen rumhackt.“ – „Stimmt. Was hat er noch genau gesagt?“ – „Ach, irgendwas wie unser Finanzminister. Die Armen haben selbst schuld und sehen obendrein scheiße aus. Oder so ähnlich. Oder war das gar nicht der Finanzminister. Wie heißt der noch? Sarrazin? Ach nee, das ist ja der von Berlin.“

„Deutschland ist doch eh alles, was Berlin ist“, schaltet sich R. ein. F., eine von zwei politischen Lobby-Arbeiterinnen für O2, beobachtet über ihr Glas Gazpacho mit Pfirsichdämpfung – dadurch wird die zickige Tomate etwas matter – hinweg: „Guckt mal, Obama schaut nie nach vorne, immer dreht er den Kopf zur einen oder anderen Seite. Und wenn er nach rechts guckt, scheint die Sonne durchs linke Ohr.“ – „Wenigstens schaut sie ihm nicht aus dem Arsch.“ – „Was heißt denn das jetzt?“ – „Warum glauben die Leute erst, dass sie an was Wichtigem teilhaben, wenn 100.000 andere um sie herum in die gleiche Richtung starren? Was ist nur mit deren Ego los? Wissen die denn nicht, dass Politik in Hinterzimmern, in Zigarren-Lounges und in Bumsressorts gemacht wird?“, frage ich in die Runde in unserem Loft-Ressort. Wobei, ich selbst weiß überhaupt nicht, wo Politik gemacht wird. „Guck mal den da“, flüstert mir A. ins Ohr. Obamas langer Arm. Da steht doch jemand im Private Lounge Loft mit überdimensionalem Obama-Button am Revers. Und die Sakkoärmel sind genauso zu lang wie bei Obama selbst, man sieht die Hemdmanschetten nicht. Plötzlich fühle ich mich weder genießerisch noch produktiv.

Ich bin dann früh gegangen. Es ließ mir einfach keine Ruhe, in welcher Schublade ich meinen „No Future“-Button vergraben habe. JAN JOSWIG