„Wir wollen Etiketten abkleben“

Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker sind diesmal dem Gesang gewidmet. Der kann vom Liederabend bis zum Kärntner Volkslied reichen. Letzteres allerdings mag Festivalleiter Markus Fein dem Publikum im Norden nur in jazzigem Arrangement zumuten

MARKUS FEIN, 37, Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker, leitet die Sommerlichen Musiktage Hitzacker seit dem Jahr 2002.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Fein, ein ganzes Festival zum Gesang – schließen die Musiktage in Hitzacker damit hierzulande eine Lücke?

Markus Fein: Ein ganzes Festival dem Gesang zu widmen, ist ein lange gehegter Wunsch von mir. Gesang hat eine ganz eigene, besondere Qualität: Die Stimme ist das einzige Instrument, das direkt aus dem Körper kommt, da ist nichts zwischengeschaltet. Außerdem war mir wichtig, das Thema durch alle Jahrhunderte, alle Genres und Musikkulturen zu ziehen. Zugleich möchte ich für dieses Festival neue Konzertformen finden. Da bietet dieser Fokus vielfältige Möglichkeiten, weil der Gesang sowohl in einheimischen als auch in außereuropäischen Volksmusikkulturen zuhause ist. Aber auch der Liederabend – ein Relikt des klassischen Bildungsbürgertums – steht natürlich auf dem Programm.

Welches ist die Idee hinter der Veranstaltung mit tuvinischen Obertonsängern und Schweizer Jodlern am 31. Juli – der Kontrast zwischen mongolischer Prärie und europäischem Hochgebirge?

Ich versuche weniger, diese Dinge gegeneinander auszuspielen, als vielmehr die unterschiedlichen Gesangstechniken und Musikkulturen als eigenständige Phänomene aufeinander zuzubewegen. Das ist auch Ziel des Konzerts mit dem tuvinischen Ensemble Huun-Huur-Tu und der Schweizer Gruppe Stimmhorn. Trotz aller Unterschiede verbindet sie etwas sehr Wichtiges: die Obertontechnik, die sowohl im mongolischen Kehlkopfgesang als auch beim Jodeln stimmtechnische Basis ist. Das wirkt sich sehr verschieden aus und man kann sehr gut beobachten, wie beide Ensembles ihre Spezifika einbringen. Der Abend soll allerdings kein gewolltes Crossover-Projekt sein, das verschiedene Musikkulturen nivelliert, sondern wir wollen diese Dinge einfach nebeneinanderstellen.

Wenn die Musik so eindrucksvoll für sich stehen kann: Warum präsentieren Sie sie dann zusätzlich an außergewöhnlichen Orten? Gleich an diesem Sonntag etwa gibt es einen „Festival Walk“ zum Dötzinger Forst bei Hitzacker.

Dieser Wald ist in der Tat ein besonderer, historisch sehr belasteter Ort mit einer besonderen Aura: Dort gibt es ein geheimes unterirdisches Tanklagersystem für Öl und Benzin aus der Zeit des Nationalsozialismus. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die in der Nähe inhaftiert waren, mussten es bauen. Die Alliierten haben diese bunkerartigen Anlagen nach Ende des Zweiten Weltkriegs zwar gesprengt. Trotzdem gibt es in diesem Wald noch sehr gut sichtbare Ruinen dieser Anlagen. Hier werden wir Vokalwerke aufführen, die sich mit Frieden und Krieg befassen. Dabei war mir wichtig, nicht nur Musiker von weit her einzuladen, sondern auch welche aus der Region, die sich mit diesem Ort vielleicht völlig neu auseinandersetzen. Denn viele Menschen aus der Region kennen diesen Ort gar nicht. Aus diesem Grund habe ich – neben der Sinfonietta Leipzig – Chöre aus Hitzacker und Dannenberg eingeladen. Sie werden unter anderem Rudolf Mauersbergers Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ aufführen, die 1945 unmittelbar nach der Bombardierung Dresdens komponiert wurde. Auch Mauricio Kagels „Zehn Märsche, um den Sie zu verfehlen“ werden dort erklingen.

Soll das Konzert auch ein pazifistisches Statement sein?

Es soll Ausdruck dessen sein, dass wir als Festival uns mit diesen Orten auseinandersetzen. Und dass Gesang ganz unterschiedliche Quellen haben kann, dass Singen und Besingen aus den verschiedensten Kontexten erfolgen kann. Deshalb haben wir auch Veranstaltungen auf dem Programm wie „Vom Lied zum Song“, in denen es um die ironische Brechung von Volksliedern geht.

Hat die Unterscheidung zwischen „Lied“ und „Song“ auch etwas mit der Abgrenzung von E- und U-Musik zu tun – und mit Altersgruppen von Zuhörern?

Hat sie sicherlich – einfach, weil diese Klischees noch in den Köpfen sind. Wir wollen mit unserem Konzert, in dem Mendelssohn, deutsche Volkslieder und Songs von Kurt Weill erklingen, versuchen, solche Etiketten wieder abzukleben. Wir wollen den Raum freimachen für ein unbefangenes Hören. Deshalb haben wir für einen anderen Abend das österreichische Männerquartett Schnittpunktvokal eingeladen. Es wird uralte Kärntner Volkslieder neu singen – jazzig arrangiert von Wolfgang Puschnig. Ein erfrischender Zugang und für ein norddeutsches Festival natürlich besser geeignet als die Präsentation der Lieder in ihrer Ursprungsform.

Warum müssen diese Lieder umarrangiert werden?

Müssen sie nicht. Aber wenn wir diese Musik hier in Norddeutschland auf einem Festival präsentieren, brauchen wir schon eine Legitimation. Wir wollen ja nichts ausstellen, keine Exotismen. Sondern wir wollen zeigen, wie kreativ Komponisten heute mit diesem Material umgehen: respektvoll und kreativ.

Am 2. August wird auch „The Great Learning“ von Cornelius Cardew aufgeführt, eine selten gespielte, komplett graphische Partitur. Warum?

„The Great Learning“ ist ein großer Chorgesang – ein sehr umfangreiches Stück, das, komplett aufgeführt, viele Stunden dauern würde. Es kommt auch mit recht wenig Spielanweisungen aus. Das Publikum selbst wird zum Ausübenden. Darin liegt die Pointe des Stücks, das natürlich den Geist der 60er Jahre in sich trägt: Partizipation war ja damals ein wichtiges Schlagwort. Das Stück ist aus diesem Kontext heraus zu verstehen. Und es ist sehr reizvoll, es bei einem Festival der Stimmen zu platzieren.

Sommerliche Musiktage Hitzacker: 26. 7.–3. 8. www.musiktage-hitzacker.de