„Unheilbare Reisende“

Freiheit und Abenteuer suchte die Schweizer Bohemienne Annemarie Schwarzenbach. Und sie wollte „das Innere der Länder kennenlernen, um sie für andere Menschen beschreiben zu können“

Der Reiz des Reisens war auch in den Jahrhunderten, bevor es Autos und Flugzeuge gab, für europäische Frauen immer groß. Bekannte Beispiele waren die Engländerinnen Lady Mary Wortley-Montagu, Mary Shelley, Gertrude Bell, die Französin Flora Tristan, die Schweizerinnen Isabelle Eberhardt und Ella Maillart, die Österreicherin Ida Pfeiffer sowie die Deutschen Johanna Schopenhauer, Ida Gräfin Hahn-Hahn und viele andere mehr.

Länder wie Ägypten, Syrien, Libanon, Mesopotamien, Persien und Afghanistan übten wegen ihrer kulturellen Fremdheit eine starke Anziehungskraft aus, und die Frauen nahmen viele Anstrengungen und Risiken auf sich, um diese Ziele zu erreichen. Nicht alle kehrten gesund oder überhaupt zurück. Krankheiten und Unfälle galt es zu überstehen; bereut haben die Zurückgekehrten den Aufbruch dennoch nicht.

Ausstellung: Annemarie Schwarzenbach – Eine Frau zu sehen Anlässlich des 100. Geburtstages von Annemarie Schwarzenbach wird eine Ausstellung des Museums Strauhof Zürich, konzipiert von Alexis Schwarzenbach, in Berlin im Literaturhaus vom 13. Juni (Eröffnung) bis zum 3. August zu sehen sein. www.literaturhaus-berlin.de

VON CHRISTINA PUSCHAK

Sie war eine leidenschaftliche Reisende, die Schweizer Schriftstellerin, Journalistin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach, „getrieben von … Ungeduld, erfaßt von Unstetheit, Zwang und Bereitschaft zu namenlosen Zielen“. Bereits in jungen Jahren schloss sich die Züricher Industriellentochter der Wandervogelbewegung an, einer Bewegung, die die Rückkehr zur Natur propagierte und eine Facette ihres späteren Weges und Lebens vorzeichnete: „Ich möchte ja nichts anderes als wandern – von Welt zu Welt, und nicht aufhören“, lautete ihr Credo.

Vor gut siebzig Jahren trat Annemarie Schwarzenbach ihre erste von vier Reisen durch Vorderasien an, eine Reise „ins Unerreichbare …, die uns zwingt, Unbequemlichkeit und Einsamkeit auf uns zu nehmen“. Sie verließ Europa, als sie der Gefahr des Faschismus gewahr wurde und das drohende Unheil aufziehen sah: „Ich kann, wenn ich an Europa denke, nichts finden, was mich dort hielte oder mir auch nur recht erträglich schien.“ Nicht, dass sie sich nicht politisch engagierte; sie gab mit Klaus Mann die antifaschistische Exilzeitschrift Die Sammlung heraus. Sie vermochte sich aber nicht „mit Leib und Seele in die Politik zu stürzen“.

Stattdessen fuhr sie in den Orient. Sie schloss sich einer Archäologengruppe an, um als promovierte Historikerin ihr Wissen einzubringen, ihre archäologischen Kenntnisse zu erweitern und den Quellen europäischer Zivilisation nachzuspüren: „Untätig zuzuschauen war gewissenlos – ich ertrug es … nicht. Noch viel weniger wollte ich kämpfen, mir kam die Rolle falsch vor, die man mir auferlegte. Ja, ich bin aus Gewissenhaftigkeit weggegangen.“

Ihre Schwierigkeiten und Glücksgefühle bei dieser Reise beschrieb sie in zahlreichen Reisefeuilletons. Ausführlich schilderte und verarbeitete sie ihre Erlebnisse in dem Buch „Winter in Vorderasien“. Sie erkannte illusionslos, dass eine Reise „ein konzentriertes Abbild unserer Existenz“ ist. Die Kehrseite ihres wagemutigen Lebens waren Skandale, unglückliche Lieben und Rastlosigkeit. Manche, die sie nach früheren Büchern wie „Pariser Novelle“ (1929) oder „Freunde um Bernhard“ (1931) als zu involviert kritisiert hatten, vermerkten nun, sie habe ihr Ich zu stark zurückgenommen, schriebe zu sachlich, wobei immer wieder der Eindruck entstünde, sie hätte etwas unvollständig wiedergegeben, gar zurückgehalten. Ihr Anliegen, so sagte sie selbst, war es: „das Innere der Länder kennenzulernen und sie aufrichtig zu lieben, um sie für andere Menschen beschreiben zu können“.

Nicht der zivilisierte Hochmut führte ihre Feder, sondern der unbestechliche Blick. Sie wollte sich aus den „Bindungen der Gewohnheit“ befreien und sich dem wunderbaren Gefüge, „das sich die Welt nennt“, widmen.

Ihr „Heißhunger nach Menschen“ ließ sie Kontakt zu den Frauen vor Ort suchen. Schwarzenbach beklagte, unter welch unmenschlichen Bedingungen sie arbeiten müssen, wie ausgeliefert und unterworfen sie den patriarchalischen Strukturen sind: „Wir mögen heute in Europa skeptisch geworden sein gegenüber den Schlagworten von Freiheit, Verantwortung, gleichem Recht für alle und dergleichen mehr. Aber es genügt, die dumpfe Knechtschaft von nahem gesehen zu haben, die aus Gottes Geschöpfen freudlose, angsterfüllte Wesen macht – und man wird die Entmutigung abschütteln wie einen bösen Traum und wieder der Vernunft das Wort reden, die uns auffordert, an die schlichten Ziele eines menschenwürdigen Daseins zu glauben und sich dafür einzusetzen.“

Auf all ihren Reisen – ob nach Spanien, Indien, in die USA oder in das „Herz der Dunkelheit“, in den Kongo – hatte sie ein offenes Auge für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen. Sie schreibt über die Armut der Zigeunerkinder, über die spanischen Frauen, die auf den Feldern und in den Fabriken hart arbeiten müssen. Als eine der ersten ausländischen Journalistinnen prangerte sie die Rassendiskriminierung, die Ausbeutung und die sozialen Missstände der Baumwollpflücker in Amerika an und dokumentierte mit die Lebensbedingungen afghanischer Frauen unter dem Tschador. Bei aller Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen begeisterte sie sich immer wieder für die Landschaften, nicht nur in den USA: „… eine Verwandlung, ein Szenenwechsel, der durch Galerien führte mit Ausblicken auf Kaskaden und Wasserfälle, Stufen dunkler Wälder, Abstürze und schneegekrönte Häupter“.

„Ich möchte ja nichts anderes als wandern – von Welt zu Welt, und nicht aufhören“, so das Credo der Schwarzenbach

Stets auf der Flucht vor den Zwängen daheim, kehrte sie doch immer wieder in ihre Heimat zurück, nicht in das verhasste Elternhaus in Bocken, wohl aber in das geliebte Engadin nach Sils-Baselgia: „Das Leben verlangt von uns, daß wir aus unseren Schwächen unsere Kraft ziehen.“

Und in der Tat: Sils wurde ihr schicksalhafter Ort „Alle Wege, welche ich auch ging, welchen ich auch entging, endeten hier, in diesem „glücklichen Tal“, von dem es keinen Ausweg mehr gibt, und welches deshalb schon dem Ort des Todes ähnlich und den Feldern der Engel benachbart sein muß“, schreibt sie. Ein Sturz vom Fahrrad, eine schwere Kopfverletzung, eine falsche Behandlung – Annemarie Schwarzenbach starb 1942 im Alter von 34 Jahren. Ihr früher Tod und ihr unstetes Leben machten sie zum Mythos.

Aus Annemarie Schwarzenbachs Büchern über ihre Reisen lässt sich der Eindruck gewinnen, dass Reisen vieles sein kann, manchmal sogar nahezu gleichzeitig: Reiselust, Flucht, Suche, Befreiung, ein Ich-sein-Dürfen trotz einengender Traditionen, ein Selbstfindungsprozess. Vielleicht fand sie auf ihren Reisen zwischen Einsamkeit und buntem Trubel ein Stück ihrer Identität. Vielleicht konnte sie zeitweise ein Gefühl von Lebensintensität entwickeln, das in den Schriften über sie mitunter ignoriert wird oder allzu sehr in den Hintergrund gerät.

Wer sich mehr mit Annemarie Schwarzenbachs Reiseerleben beschäftigen will, sollte sich zielgerichtet auf ihr vielseitiges Werk während der Reisen konzentrieren und sollte die Biografien über sie, die ihr Reiseerleben als fast ständig von Angst erfüllt ansehen, eher kritisch lesen – wer hätte bei solchen Reisen unter diesen Bedingungen, „in dieser feindseligen Landschaft [die turkmenische Steppe; d. Verf.], die sogar von den Nomaden verlassen wurde“, nicht Anflüge von Furcht? Annemarie Schwarzenbach kann so zerbrechlich nicht gewesen sein, wenn man bedenkt, welche gefährlichen Situationen und Strapazen derartige Reisen mit sich brachten.