Wenn jemand fehlt

Ins Loch gefallen

Mein Bruder hängt zurzeit ziemlich in den Seilen. Seine Freundin wollte sich verändern, nach so vielen Jahren, und eine neue Frisur schien da nicht mehr auszureichen. Jetzt sucht Moritz verzweifelt nach Antworten, und als Bruder tut einem das auch irgendwie weh. Jeden Tag rufe ich bei ihm an, meistens am Abend, denn dann ist es besonders schlimm. Meistens fängt er er gleich zu Beginn des Telefonats an, von der leeren Wohnung zu erzählen. Wie sehr er das gemocht habe, die Art, wie Francescas Sachen die Zimmer besetzten. Die Socken, die Bücher, der Lockenwickler, die Shirts, die Gitarre. Und jetzt seien auf 65 Quadratmetern überall nur Löcher, bombastische Riesenlöcher, in die er jeden Morgen falle. Dabei fühle er sich immer so seltsam schummrig.

Ich kann ihn wirklich gut verstehen. Und wie jedes Mal am Ende des Telefonats schlage ich ihm vor, er solle eine Weile wegfahren, zu mir nach Berlin oder sonst wohin. Und was tut er? Sagt bloß leise „Hmh“. Einfach nur „Hmh“. Es ist zum Verrücktwerden mit seiner Schummrigkeit.

Ich beschließe, mich ein paar Tage nicht mehr bei ihm zu melden. Nicht, dass ich ihn hängenlassen will, aber ich habe es jetzt lange genug probiert, und nun muss er einfach selbst den Arsch hochkriegen.

Es vergeht knapp eine Woche, ohne dass wir etwas voneinander hören. Dann schließlich, Samstagmorgen um halb sieben, klingelt es an meiner Haustür. Ich öffne. Vor mir steht jemand, den ich sehr lange kenne, aber ganz anders in Erinnerung hatte. „Moritz?“, sage ich, und für einen Moment lege ich ihm meine Hand auf die Schulter. „Kein Koffer, kein Gepäck?“, frage ich, doch er schüttelt bloß den Kopf. Neben ihm ein riesiges Loch. JOCHEN WEEBER