Autorität ist besser als autoritär

Wolfgang Bergmann hat nichts gegen Disziplin. Doch er kritisiert Pädagogen, die Gehorsam fordern und mit Strafen drohen. Wie man den Respekt von Jugendlichen anders gewinnt, zeigt sein Buch

Gerold hat Angst. Die Hausaufgaben stehen an, und er versteht doch so wenig von Mathe und Grammatik. Also weigert er sich. Die Eltern machen Druck. Gerold trotzt. Die Eltern schimpfen und drohen mit Strafe. Gerolds Angst steigert sich. Ein Gefühl von Selbstentwertung kommt hinzu. Die Situation eskaliert.

Dies ist ein Beispiel aus Wolfgang Bergmanns neuem Buch, „Disziplin ohne Angst“. Ein Beispiel dafür, wohlgemerkt, wie Eltern nicht mit ihren Kindern umgehen sollten. Denn das Buch des erfolgreichen Kinder- und Jugendpsychologen, das ein Jahr nach dem Riesenerfolg von Bernhard Buebs Streitschrift „Lob der Disziplin“ erschienen ist, versteht sich als Gegenentwurf zu Buebs rigidem Erziehungskonzept.

In „Lob der Disziplin“ fordert Bueb eine Erziehung, die streng moralischen Prinzipien folgt. Seine Erziehungsratschläge leitet er von einem abstrakten Ziel ab. Kinder sollen sich den Regeln einer bestehenden Gesellschaft lückenlos anpassen. Sie lernen Disziplin, indem sie Rituale befolgen und konsequent bestraft werden, wenn sie aufmucken. Begründet wird diese autoritäre Erziehung bei Bueb mit der Trias Gott-Staat-Erziehungsberechtigter.

Bergmann schlägt angesichts einer solchen erzieherischen Starre die Hände über dem Kopf zusammen. Nein, meint er, Kinder brauchen nicht mehr Regeln und mehr Strafen. Und Grenzen muss man ihnen auch nicht setzen – denen begegnen sie sowieso an allen Ecken und Enden. Beispielsweise in der Sprache, in der sie sich zurechtfinden müssen, in den Gegenständen, die sie erforschen müssen – und natürlich im Umgang mit anderen Menschen: den Eltern, den Geschwistern, den anderen Kindern.

„Wir müssen unsere Kinder mit den Begrenzungen und dem ‚Eigensinn‘ der Realität versöhnen, auf respektvolle Weise“, setzt Bergmann der Litanei der Disziplinhudler entgegen. Eltern sollen Sicherheit ausstrahlen und auf ihr Kind und seine Nöte individuell eingehen – das macht sie aus der Sicht des Kindes „stark“. Mit starken Eltern im Rücken wird auch das Kind stark und kann sich neugierig auf die Welt einlassen. Und dann, so der Clou der Argumentation, wird es seinen Eltern auch folgen, wenn sie etwas von ihm verlangen, was ihm nicht passt.

Bergmann wendet sich also nicht gegen die Forderung nach „Disziplin“. Doch während „Disziplin“ und „Gehorsam“ bei Bueb Tugenden sind, die durch Einübung und Ritual von äußeren Autoritäten aufgezwungen werden, sind sie bei Bergmann das natürliche Ergebnis einer funktionierenden Bindung zwischen Eltern und Kind, die von Geburt an entwickelt sein will. Liebe und Einfühlung sind dabei die Conditio sine qua non. Kinder wollen Autoritäten durchaus, ist seine These. Allerdings hängt diese Autorität an der Persönlichkeit und ergibt sich nicht, wie bei Bueb, aus der Funktion.

Bergmann argumentiert aus entwicklungspsychologischer Sicht. Er geht auf die einzelnen Phasen ein, die Kinder durchlaufen und erklärt, was beispielsweise in der Pubertät in den Kindern vor sich geht. Von diesem Verständnis ausgehend, plädiert er für Humor und Großmut im Umgang mit Kindern. Er thematisiert ebenfalls, was eine Erziehung à la Bueb in einem Kind oder Jugendlichen bewirkt – und wie das die Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig zerstört. Seine Argumentation würzt er mit Beispielen aus seiner eigenen Kindheit, seiner Familie und seiner Praxis. Außerdem setzt er Gedankenexperimente ein, beispielsweise wenn er durchspielt, welchen Schaden Strafe in einer sensiblen Situation im Innenleben eines Kindes anrichten kann.

Leider beschränkt sich Bergmann thematisch zu sehr auf die Erziehung in der bürgerlichen Familie. Soziale Probleme klammert er dagegen weitgehend aus. So äußert er sich nicht dazu, wie die Gesellschaft erfolgreich mit Kindern umgehen kann, die aus sozial benachteiligten oder kaputten Familien stammen. Was ist die Rolle von Kindergarten und Schule bei Erziehung und Bildung? Wie können Lehrer mit schwierigen Kindern umgehen?

Zurück zum Anfangsbeispiel. Wie können Eltern einen Konflikt wie den mit Gerold lösen? Bergmanns Antwort lautet: Erwachsensein. Sich die Ängste klarmachen, die hinter dem Verhalten des Kindes stecken – und hinter dem eigenen. Mit der „Distanz eines erwachsenen Lebens“ mitfühlen. Und dann behutsam, aber souverän darauf bestehen, dass die Aufgaben erledigt werden. Einen einfachen Job haben Eltern bei Bergmann nicht. ANNEGRET NILL

Wolfgang Bergmann: „Disziplin ohne Angst. Wie wir den Respekt unserer Kinder gewinnen und ihr Vertrauen nicht verlieren“. Beltz Verlag, Weinheim 2007, 184 Seiten 17,90 Euro