Gewaltlos und ungehorsam

Der palästinensische Philosoph und Politiker Sari Nusseibeh stand stets zwischen den Fronten, weil er die Unterdrückung Israels ebenso geißelte wie den Terror der Islamisten. Seine Autobiografie ist ein ebenso spannender wie bedrückender Zeitzeugenbericht

„Es war einmal ein Land“: Der Titel des Buches spielt auf den Beginn vieler Märchen an. Und er formuliert wie so viele Märchen einen utopischen Imperativ: Dass es einmal anders kommen möge. Bei dem nunmehr 60 Jahre andauernden Bürgerkrieg zwischen Israelis und Palästinensern hat sich diese Hoffnung allerdings bis heute noch nicht erfüllt.

Sari Nusseibeh ist kurz nach der Staatsgründung Israels geboren und erzählt in diesem Buch von seinem Leben in dem gespaltenen Land und der geteilten Stadt Jerusalem. Nusseibeh stammt aus einer wohlhabenden Adelsfamilie, die ihre Herkunft bis zum Jahr 638 zurückverfolgen kann, als der Kalif Omar die Nusseibehs zu Wächtern der Grabeskirche auf dem Tempelberg ernannte. Augenzwinkernd und doch auch ernsthaft spielt Nusseibeh auf diese Herkunftslegende an – vor allem dann, wenn es um den israelischen Staatsgründungsmythos geht, der besagt, dass die jüdischen Einwanderer nach dem Ersten Weltkrieg ein unbewohntes Land vorgefunden hätten.

Nusseibehs Vater war reich, hoch angesehen und zeitweise jordanischer Verteidigungsminister, Bildungsminister, Gouverneur der Region Jerusalem und Botschafter in London. Bei der Teilung Jerusalems 1948 kam die Familie nahezu ungeschoren davon, weil deren Häuser im Osten der Stadt lagen. Ganz anders erging es der Familie der ebenfalls adligen Mutter: Sie verlor nach dem Sechstagekrieg 1967 ihren gesamten Besitz. Die meisten Mitglieder der Familie von Nusseibehs Mutter wurden damals – wie 700.000 andere Menschen – zu staatenlosen Flüchtlingen.

Der Vater war ein frommer Muslim, aber kosmopolitisch orientiert. Seine Kinder besuchten englisch- und französischsprachige Schulen und studierten in London und Paris. Sein Credo lautete, dass Religionen dazu dienen sollten, „die Welt zu einen, anstatt zu spalten“. Sein Sohn Sari machte diesen Satz zu seinem politischen Motto, denn die Geschichte Jerusalems wie Palästinas war jahrhundertelang geprägt vom friedlichen Zusammenleben von Juden, Muslimen und Christen.

Religiös verbrämte territoriale Ansprüche spielten in den mittelalterlichen Kreuzzügen, dann aber erst wieder in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Rolle. Nun kamen sie von zwei Seiten. Scheich Isaddin al-Kassem begann 1935/36 einen Guerillakrieg gegen die Juden. Der Name des Scheichs hat sich erhalten für selbst gebastelte Raketen, die fanatisierte Islamisten vom Gazastreifen aus auf israelische Siedlungen abfeuern. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg setzten jüdische Terrorgruppen die britische Mandatsmacht mit Bombenanschlägen unter Druck, um für möglichst viele Juden aus Europa die Einreise zu erpressen.

Sari Nusseibeh studierte ab 1969 in London Philosophie und heiratete die Tochter des Philosophen John Langshaw Austin (1911–1960), des Begründers der bahnbrechenden Sprechakttheorie. Nach einem Studienaufenthalt in den USA kehrte Nusseibeh 1977 als Dozent an die Birzeit-Universität und die Hebräische Universität in Jerusalem zurück. Als er begann, in Birzeit die Dozenten gewerkschaftlich zu organisieren, bekam er es mit dem israelischen Militärgouverneur zu tun, der „die Palästinenser dauerhaft zu einer unterprivilegierten Arbeiterklasse“ machen wollte. Nusseibeh und seine Gruppe verschrieben sich der Gewaltlosigkeit und dem zivilen Ungehorsam. Diesen Grundsätzen blieb er auch dann noch treu, als er sich Jassir Arafat und der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) näherte.

Wie wenige erkannte Nusseibeh schon sehr früh, dass palästinensische Terrorakte nur eines bewirkten: Der Ausnahmezustand dauert immer länger, und auch jede zivile Opposition wird brutal verfolgt. Daraus erklärt sich auch die diskrete Förderung, die die israelische Führung islamistischen Gruppierungen wie der Hamas zunächst zukommen ließ. Nusseibeh knüpfte Kontakte zu Oppositionellen in Israel, was wiederum islamistische Studenten gegen ihn aufbrachte. Er geriet immer wieder zwischen die Fronten, denn den Fundamentalisten galt er als „Verräter“, während die israelische Regierung seine Dialogbereitschaft als „das lächelnde Gesicht des Terrorismus“ verspottete.

Nusseibeh führt dem Leser die Tragödie des Nahostkonflikts und der halbherzigen Friedensversuche in den Gesprächen in Oslo, Madrid, Genf und Camp David vor Augen. Währen der ganzen Zeit ging die israelische Landnahme- und Siedlungspolitik weiter. Ebenso scharf kritisiert er aber auch die PLO-Vertreter, „die die Mercedes-Händler in ihrem jeweiligen Exilort besser kannten als die Bedürfnisse und Sorgen der unter der Besatzung lebenden Menschen.“ Und trotz seiner Freundschaft mit Arafat, der ihn zum PLO-Vertreter in Jerusalem und zum Direktor der Al-Quds-Universität machte, rechnet Nusseibeh mit dessen „Günstlingswirtschaft“ und Korruption scharf ab.

Schon in den 80er-Jahren skizzierte Nusseibeh – auch im Gespräch mit israelischen Intellektuellen – die Eckpfeiler einer Lösung des Konflikts: zwei Staaten in den Grenzen von 1967, arabische Flüchtlinge dürfen nur in palästinensisches Gebiet zurückkehren, Palästina wird zum Wächter auf dem Tempelberg und Israel zum Wächter an der Klagemauer. Für diese Ziele kämpfen Nusseibeh und seine Mitstreiter unerschrocken mit den Mitteln der politischen Aufklärung und des zivilen Ungehorsams. Seine Autobiografie ist ein ebenso spannender wie bedrückender Zeitzeugenbericht. RUDOLF WALTHER

Sari Nusseibeh (mit Anthony David): „Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina“. Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Katharina Förs und Thomas Wollermann (Kollektiv Druck-Reif). Kunstmann Verlag, München 2008, 528 Seiten, 24,90 Euro