Die Wiederentdeckung des Altnazis

Laut einer aktuellen Studie war ihr ehemaliger Oberbürgermeister Kurt Blanke eine der Schlüsselfiguren der Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Das erschüttert Celler Lokalpolitiker – obwohl sie seit Jahrzehnten davon wissen konnten

AUS CELLE LUKAS SANDER

Kurt Blanke war von 1964 bis 1973 im niedersächsischen Celle Oberbürgermeister – und im Nationalsozialismus eine der Schlüsselfiguren der Judenverfolgung. Das belegt jetzt eine Studie der Uni Konstanz. Der promovierte Jurist war im Zweiten Weltkrieg in Frankreich Leiter des Besatzungs-Referats „Entjudung“ und damit verantwortlich für die Enteignung von Juden – die Vorstufe zur Deportation nach Auschwitz.

Das Ergebnis der jüngst erschienenen Dissertation des Konstanzer Politikwissenschaftlers Martin Jungius zieht in Celle nun politische Reaktionen nach sich. Denn 1969 wurde Blanke das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Seit 1999 ist nach dem mittlerweile verstorbenen CDU-Politiker eine Straße in Celle benannt.

„Wir fordern schon lange, dass einmal wissenschaftlich aufgearbeitet wird, wie herausragende Celler Persönlichkeiten in der NS-Zeit gehandelt haben“, sagt der Celler SPD-Vorsitzende Jürgen Rentsch. Das aber sei immer wieder von der Mehrheit aus CDU und FDP verhindert worden.

Die NS-Vergangenheit von hoch geschätzten Bürgern droht in Celle offenbar zu einem Dauerbrenner zu werden. Erst im vergangenen Jahr schlugen die Wellen hoch, als bekannt wurde, dass Ernst Meyer – bis Kriegsende Oberbürgermeister in Celle – eine Rolle im Nationalsozialismus gespielt hatte. Die Ernst-Meyer-Allee wurde umbenannt.

Ob das – wie sogleich von den Grünen im Celler Rat gefordert – auch mit der Kurt-Blanke-Straße passieren wird, dazu wollen sich weder die CDU noch die Stadtverwaltung äußern. Ein Verwaltungssprecher sagte: „Wir werden das Thema sorgfältig aufarbeiten und dann entscheiden, was zu tun ist.“ CDU- Fraktionschefin Astrid Peters will die Konstanzer Studie zunächst „in Ruhe lesen“.

Dabei ist die Verstrickung Kurt Blankes in NS-Verbrechen eigentlich nichts Neues – sagen zumindest Celler Lokalhistoriker wie Elmar Maibaum. Er forscht an der Uni Hannover zu Blanke. „Lektüre schützt vor Neuentdeckungen“, sagt Maibaum zu der plötzlich entstandenen Aufregung. Seit 1956 gebe es einen Aufsatz des Historikers Joseph Billig. Billig habe damals für das Zeitgenössische Jüdische Dokumentationszentrum in Paris gearbeitet. Sein Dossier über den Juristen Blanke habe 1956 sogar dem Bundesjustizministerium vorgelegen – jedoch ohne Konsequenzen. Auch später habe es immer wieder kritische Veröffentlichungen gegeben. 1982 beispielsweise erschien in Celle das Buch „Hinter den Fassaden“ mit einem Aufsatz über Blankes Tätigkeit in Frankreich.

Trotz der bekannten Veröffentlichungen geben zahlreiche Celler Politiker – darunter auch SPD-Chef Jürgen Rentsch – an, nichts von Kurt Blankes NS-Vergangenheit gewusst zu haben. Und CDU-Fraktionschefin Peters sagt: „Mir war das nicht bekannt. Man wusste wohl, dass er in Frankreich war.“ Sie überrasche das, sagt Peters, „gerade nach 1938“.

Gemeint sind die Novemberpogrome von 1938. Da Blanke danach aus der SA, deren Mitglied er seit 1933 war, austrat, gilt er vielen Cellern gar als eine Art Märtyrer. Dazu ist in „Celle – Das Stadtbuch“ zu lesen, Blanke habe „in der so genannten Reichskristallnacht [...] mit seinem Auto Brandfackeln und Werkzeug zur Synagoge transportiert und später um seine Entlassung aus der SA gebeten, da er gegen sein Gewissen Gehorsam geleistet habe“. Dies als „Märtyrertum“ zu bezeichnen, hält Lokalhistoriker Maibaum jedoch für absolut unangemessen: „In seinem Austrittsgesuch verweist Blanke etwa auf den wirtschaftlichen Schaden für das Deutsche Reich und die größere Legitimität rechtsförmiger Maßnahmen gegen die in Deutschland lebenden Juden.“

Auch das „Stadtbuch“ erwähnt Blankes Tun in der Wirtschaftsabteilung der obersten deutschen Besatzungsbehörde in Frankreich („zuständig für Judenfragen, insbesondere Enteignungen“). Das im Jahr 2003 erschienene Buch ist in den Buchläden der Stadt erhältlich.

SPD-Chef Rentsch hofft nun, dass die Forderung, Wissenschaftler mit der umfassenden Aufarbeitung der NS-Zeit in Celle zu beauftragen, diesmal eine Mehrheit findet: „Ich glaube nicht, dass die Bürger ein großes Interesse daran haben, immer wieder Vorwürfen ausgesetzt zu sein, dass man in Celle besonders gern die 30er und 40er Jahre verschweigt!“ Am heutigen Dienstag berät der Verwaltungsausschuss des Rates der Stadt Celle über mögliche Konsequenzen.