„Einfach unbeteiligt“

Auch am zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen die Eltern der verhungerten Lea-Sophie herrscht Ratlosigkeit. Die Mutter widerspricht der Darstellung ihres Lebensgefährten, der Notarzt sei gegen ihren Willen geholt worden

In einer Verhandlungspause stehen zwei Frauen vor der Tür des Schweriner Landgerichts und sprechen über die Blumen auf dem Grab. „Ich habe keine weggeschmissen“, sagt die jüngere. „Nur umgetopft.“ Es klingt, als würde sie sich verteidigen. Das Grab, über das die beiden Frauen sprechen, ist das der verhungerten Fünfjährigen Lea-Sophie, deren Eltern nun wegen gemeinschaftlichen Mordes vor Gericht stehen. Und dann sehen die beiden Frauen auf ein Schild, das in einer Ecke lehnt, auf dem steht, dass sich die Eltern von Lea-Sophie nicht aus der Verantwortung stehlen dürften. „Sie gehören zur Familie“, wird die ältere Frau im blauen Kostüm und Dauerwelle später sagen, die das Plakat aufgestellt hat. „Aber das ist die Meinung des Volkes, das muss man akzeptieren.“

Drei Zeugen werden an diesem zweiten Tag des Prozesses gehört. Drei Polizeibeamte, von denen der erste schildert, wie aufgeräumt er die Wohnung vorfindet, wie abgemagert das Kind wirkt, das auf einer Bahre, das Gesicht unter einer Atemmaske verborgen, an ihm vorübergetragen wird. Er schildert es sachlich, anders als der zweite Beamte, der Lea-Sophie noch im Krankenhaus gesehen hat und deutlich macht, dass er der Aussage des Vaters nicht glaubt, das Kind habe sich fast am Kinderstuhl stranguliert und deshalb habe man den Notarzt gerufen. „Hier wurde alles inszeniert“, sagt er – das ordentliche Kinderzimmer, in dem seit Wochen kein Kind gespielt habe, das perfekt gemachte Bett, die Kinderanziehsachen, die noch nach Weichspüler gerochen hätten. „Einfach unbeteiligt“ hätten die Eltern auf ihn gewirkt, wo doch jede Mutter verrückt würde, deren Kind ins Krankenhaus müsse.

Auch der dritte Zeuge, der den Vater vernommen hat, kommt immer wieder auf diesen Punkt zurück: das Nicht-Verstehen. Wie könne es sein, dass er Lea-Sophie seine „Prinzessin“ genannt habe, sie geliebt haben wolle und ihr doch beim Sterben tatenlos zugesehen habe, hätte er Stefan T. gefragt. „Ich kann es nicht erklären“, habe Stefan T. geantwortet.

Etwa an dieser Stelle beginnt Stefan T. zu weinen, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet. Auch seine Lebensgefährtin, Nicole G., eine schmale junge Frau mit weißem Gesicht, die sehr aufrecht sitzt, während sie ein Taschentuch in den Händen dreht, weint. Es ist gerade Verhandlungspause, deshalb kann ein Fotograf einen halben Meter vor ihr in die Hocke gehen und in Ruhe Bilder davon machen.

Als „Lebenskameradin“ ist Nicole G. im Vernehmungsprotokoll aufgetaucht, aber jetzt verliest ihr Anwalt eine Erklärung, in der sie der Darstellung von Stefan T. widerspricht: Weder sei sie sauer auf ihn gewesen, als er den Notarzt alarmierte, noch habe sie vorher mit ihm über einen möglichen Arztbesuch – und die Furcht vor den Folgen – gesprochen. Vielleicht werde sie im Laufe des Prozesses noch selbst aussagen, deutet ihr Verteidiger an.

Die Kammer weist die Angeklagten darauf hin, dass nach den Zeugenaussagen ein weiteres Mordmerkmal bei der Verurteilung in Frage käme: die Verdeckung einer anderen Straftat. Daraufhin fordern die Verteidiger ein Aussetzen des Verfahrens. Dem wird mutmaßlich jedoch nicht stattgegeben werden.FRIEDERIKE GRÄFF