Der Unterweltensammler

Ulrich Christiansen zieht seine Leidenschaft seit Jahrzehnten in Röhren, Bunker und Geisterbahnhöfe. Mit seinen jetzt veröffentlichten Entdeckungen erzählt er die Geschichte der Stadt von unten

VON ELISABETH WEYDT

Vor dem Hauptbahnhof: Links, ein Taxifahrer, der die klassische Musik in der Warteschleife mitsummt. Rechts, Japaner, die sich auf ihrer Entdecke-Europa-in-drei-Tagen-Reise mit den Rollkoffern abmühen. Saubermänner, Schulschwänzer und Biertrinker. Das gewöhnliche Gewusel. Hier soll es nun aber irgendwo in die Unterwelt gehen, in den Tiefbunker Hachmannplatz. Aus der Oberwelt führen nur die U-Bahn-Eingänge, kein Fluss und kein Fährmann sind in Sicht.

Also die Treppe zur U 2 hinunter: Da steht Ulrich Alexis Christiansen, der Charon, der in die Hamburger Unterwelt führt. Aber er enttäuscht die mystischen Erwartungen, die der Titel seines gerade erschienenen Buches „Hamburgs dunkle Welten“ ausgelöst hatte: „Ich bin ein richtiger Realist.“

Stimmt, er wäre auch nicht die Idealbesetzung für Hades, den Gott der Unterwelt. Obwohl der dem lichtarmen Anlass angemessen, in schwarz gekleidet ist. Aus seinen Maulwurfsaugen blitzt die Freude über das, was er gleich zeigen und erzählen kann.

Christiansens Begeisterung für Hamburgs unterirdische Gemäuer treibt ihn schon seit seinen Kindertagen immer wieder unter die Erde. Der mittlerweile 38-Jährige trug für sein Buch sämtliche Karten, Baupläne, Fotos und Aufzeichnungen von Untergrundbauten zusammen, die er finden konnte. 20.000 Fotos machte er selbst.

Dafür habe er sich ungezählte Stunden in verstaubten Archiven herumgetrieben und sich mit den Leuten kurzgeschlossen, „die die Schlüssel hatten“. Schlüssel zu nicht mehr genutzten Eiskellern alter Brauereien, zur Kanalisation, zu Geisterbahnhöfen und Bunkern. „Aber wieso denn? Das wollte noch nie jemand!“, sei häufig die verständnislose Reaktion der Behörden gewesen. „Da muss man dann eben Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Christiansen und kichert wie ein naseweiser Klassenprimus in sich hinein. In seinem Buch sind die Ergebnisse dieser Überzeugungsarbeit zu sehen: die unterirdische Geschichte Hamburgs.

Christiansen führt am unteren Ende der Rolltreppe durch eine unscheinbare Tür und sofort ist es beklemmend unwirklich. Von der niedrigen Decke und den gekachelten Wänden hallen die Schritte wider. Es ist kalt. Elf Grad. Im stillgelegten U-Bahn-Schacht stehen die Stühle einer kürzlichen Theateraufführung der Schauspiel-Studenten.

Aber schon hinter der nächsten Tür, der Tür zum Schutzbunker, ist eine Welt und Zeit konserviert, die nicht mehr greifbar scheint. Grünliches Licht lässt die langen Reihen von Sitzschalen auf Eisengestänge befremdlich wirken: Assoziationen mit Playmobil, Science-Fiction und Bushaltestellen drängen sich auf.

Tatsächlich suchten hier im Zweiten Weltkrieg 3.000 bis 4.000 Menschen Schutz vor Luftangriffen. Das Labyrinth aus niedrigen Gängen, Räumen und Treppen sei dabei nur für 950 Menschen zugelassen gewesen, erzählt Christiansen. „1968/69 wurde die Anlage für den Kalten Krieg umgerüstet. Hier hätten dann 1.700 Menschen 14 Tage lang versorgt werden können.“

Heute könne man den Bunker aber nicht mehr als solchen benutzen: „Alles, was noch funktioniert, ist das Licht.“ Es würde ein halbes Jahr dauern, bis die Anlagen wieder in Stand gesetzt wären. Denn seit dem Ende des Kalten Krieges warteten die Behörden den Bunker nicht mehr. Sie sähen keine akute Kriegsgefahr.

Christiansen zeigt die ABC-Filteranlage, die Essensausgabe und den Vorratsraum, in dem noch immer Babypuder aus den 60er-Jahren lagert, wie andere Herren ihre Modelleisenbahn. „Meine Leidenschaft ist nicht sehr verbreitet“, freut er sich. „Aber sonst ist mein Leben eigentlich normal.“ Er ist Netzwerktechniker bei einer Hamburger Reederei. 2006 gründete er den Verein „Hamburger Unterwelten“, weil er auch die Öffentlichkeit für seine Entdeckungen begeistern wollte.

Christiansen drängt weiter: „Jetzt aber ab zur U-Bahn!“ Er schreitet voraus wie jemand, der sich vom Rednerpult einen Strauß Blumen abholen wird. „Hier, bitte sehr“, die Dame von der Hamburger Hochbahn öffnet am Bahnsteig der Linie U 2 die Tür zur nicht fertig gebauten Linie zwischen Lurup und Winterhude. In den 70er Jahren ist der Stadt kurz vor der Fertigstellung das Geld ausgegangen. Plakate zeugen von einer Zeit, in der die Karten für das NDR-Sinfonieorchester noch bis zu sechs D-Mark kosteten.

Wieder an der Oberwelt, ein Blinzeln in die schönste Frühlingssonne: Beruhigend zu wissen, dass es da unten einen Bunker gibt, den niemand für nötig befindet, in Stand zu halten.

Ulrich Christiansen: Hamburgs dunkle Welten, Ch. Links Verlag, 2008, 168 Seiten, 29,90 Euro