„Der Königsstuhl hat Risse“

Rügen bröckelt: 15.000 Kubikmeter Felsküste sind vergangene Woche abgestürzt. Warum sich trotzdem keine Weltuntergangsstimmung breit macht, erklärt Landschaftsökologe Oliver Thaßler vom Kreidemuseum Gummanz

OLIVER THASSLER, Jahrgang 1973, Dipl.-Ing. für Landschaftsnutzung und Naturschutz, ist seit 2004 umweltpädagogisch auf Rügen tätig.

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Thaßler, gibt es die Kreidefelsen künftig nur noch als Modell in Ihrem Museum?

Oliver Thaßler: Nein. Diese Küste ragt durchschnittlich 90 Meter auf, und auch der geologische Untergrund der Insel ist Kreide. Natürlich zeigen wir im Museum Modelle und bereiten den Wandel mit Stelltafeln auf, die Rückgänge werden mit Fotos und grafisch dargestellt.

Aber?

Die Kreideküste bleibt uns noch für Hunderte von Jahren erhalten. Sie geht allerdings stärker ins Insel-Innere hinein.

Und der Königsstuhl?

Das ist ein 118 Meter hoch aufragender Kreidefelsen – der ist kompakter als die umliegenden Formationen. Allerdings: Der Königsstuhl hat Risse. Das kann man sagen. Wenn man sich die Dynamik anschaut, muss man davon ausgehen, dass er irgendwann sich verändert, bröckelt, oder sogar abrutscht.

Wie berechenbar ist die Dauer-Erosion?

Der Durchschnittswert des Küstenrückgangs bei den aktiven mecklenburg-vorpommerschen Steilufern liegt bei zirka 0,35 Meter pro Jahr. Die Erosion der Kreideküste dürfte unter diesem Wert liegen – da wird sich der kontinuierliche Abrieb im Bereich 15 bis 20 Zentimeter bewegen. Aber es ist schwierig dafür einen Mittelwert anzugeben – weil es eben immer mal wieder solche Ereignisse wie vergangene Woche gibt. Die stechen heraus.

Da sind 15.000 Kubikmeter Felsen abgerutscht. Wie häufig kommt es zu so spektakulären Abstürzen?

Der letzte wirklich spektakuläre war 2005. Damals sind die so genannten Wissower Klinken abgestürzt. Die waren eine Art Wahrzeichen, ein beliebtes Postkarten-Motiv, gerade Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Außerdem wurden sie oft mit der Malerei in Verbindung gebracht.

Klar: Wegen Caspar David Friedrich …

Ja, aber fälschlicherweise. Das berühmte Gemälde ist ja nicht an den Wissower Klinken entstanden, sondern bei der Victoria-Ansicht unweit des Königsstuhls.

Ach so!

Als die Klinken abbrachen, war das Geheul natürlich groß. Ein sehr spektakulärer Abbruch war auch der von 1981: Damals sind 150.000 Kubikmeter runter gekommen, bei der Ernst Moritz Arndt-Sicht. Das wurde teilweise vom Meer die letzten Jahre noch aufgearbeitet.

Dann sind die 15.000 Kubikmeter jetzt also bloß Peanuts?

Nein, das ist schon erheblich, das gehört zu den größeren Abbrüchen. Es ist aber nichts Ungewöhnliches: Man muss diese Küstendynamik in geologischen Zeiträumen betrachten, und da ist das etwas ganz Normales. Wir haben hier an der Kreideküste die Besonderheit, dass eiszeitliche Mergel-Sand-Schichten auf dieser Kreide aufliegen.

Aha. Und was bedeutet das?

Wenn es stark regnet, rutschen die praktisch auf dem Kreide-Untergrund auf. Insofern handelt es sich auch nicht um reine Kreide, wenn von Kreide-Abbrüchen die Rede ist. Auch Mergel- und Tonfraktionen, die die Eiszeit hergebracht hat, sind abgängig – ein ganzes Bodenmosaik.

Und Schuld ist wieder mal der Klimawandel.

Nein, das muss man klar verneinen. Diese Dynamik, das sind Prozesse, die man über zwei-, dreihundert Jahre dokumentieren müsste. Diese Abbrüche haben verschiedene Gründe: Einmal ist da das sehr steile Küstenrelief, dann nagt natürlich auch die Meeresbrandung. Ganz wesentlich ist auch der Gefrierdruck durch Frost: Der sprengt praktisch Risse in den Kreidekörper hinein. Wenn der geologische Untergrund so beschaffen ist, dass da pleistozäne Schichten mit drin sind und es stark regnet, kommt der Boden auf der Kreide ins Rutschen: Seit Ende März hat es ja fast durchgängig geregnet.

Das mit dem Frost scheint weniger zu werden. Aber die Regenfälle nehmen doch zu?

Wenn wir aufgrund des Klimawandels erheblich mehr Regenfälle haben an der Küste, dann könnte die Kreide dadurch anfälliger werden – aber das ist rein hypothetisch. Und das müssten schon so 200 Millimeter jährlich mehr sein als heute, wo wir an der Kreideküste bei 700 Millimeter liegen.

Deutschlands einziges Kreidemuseum hat seinen Sitz im alten Kreidewerk Gummanz. Die Ausstellung erzählt die Geschichte der Kreide von ihrer Entstehung über die Anfänge des Abbaus 1720 bis zum aktuellen Hype in der Wellness-Industrie.

www.kreidemuseum.de

Wenn man immer vom Abrutschen der Felsen hört, und dann erfährt: Auf Rügen wird nach wie vor Kreide abgebaut, denkt man: Gehört das nicht dringend gestoppt?

Diese Erosionen ereignen sich an der Küste im Bereich des Nationalpark Jasmund. Also da, wo Natur sich selbst überlassen ist: Prozessschutz, der Wald entwickelt sich, die natürliche Dynamik. Da wird keine Kreide abgebaut. Der Bergbau findet nur noch in einem Werk bei Sassnitz-Klementelvitz statt, und die Lizenzen laufen noch Jahrzehnte.

Ach du liebe Güte!

Nein, das ist völlig unproblematisch: Das liegt ja im Insel-Inneren. Der Kreide-Abbau hat keinen Einfluss auf die Stabilität der Küste. Kreide ist einfach der geologische Untergrund von Rügen.Wo auch immer Sie hier graben, stoßen Sie auf Kreide.

An manchen Stellen ist Rügen ja auch im Nordosten recht schmal. Zum Beispiel am Tromper Wiek, zwischen dem Naturpark und Kap Arkona, das ist nur so eine Art Fahrdamm: Ist da die Statik nicht gefährdet?

Sie meinen die Schaabe? Nein, eher im Gegenteil: Das ist ein Schwemmfächer. Der nährt sich durch Anspülungen von Sanden und kleinen Ton-Fraktionen. So lange man die Steilküsten aktiv lässt, wachsen diese Sandhaaken also weiter.

Was ist das eigentlich für ein Gefühl: Sie sitzen auf dieser Insel, dann bricht mal hier ein Stück weg, dann dort –Weltuntergangsstimmung?

Absolut nicht. Wenn Sie die Gesamtentwicklung der Insel sehen, gibt es ja auch diese Teile, wo etwas wächst. Im Frühjahr, bei der Schneeschmelze und den starken Niederschlägen ist es natürlich nicht ungefährlich, da entlang zu gehen. Aber grundsätzlich lässt diese Dynamik künstlerische Herzen eher höher schlagen. Durch die Abbrüche verändert sich die Küste ständig: Im Meer gibt es immer wieder ein neues Kolorit wenn die Kreide ins Wasser geschwemmt wird. Und die Natur gestaltet und modelliert ganz neue Felsformationen. Das hat nichts von Untergang. Das hat viel eher etwas Schöpferisches.