ausgehen und rumstehen
: Im Entwicklungsvorsprung zwischen Schenkelklopfer und Hinterhofweisheiten

Niemand kennt das Tucher. Niemand unter 55. Oder zumindest gefühlten 55. Dagegen ist gar nichts zu sagen. Ist nur nicht meine Kragenweite. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl, dass ich erst die Polizisten vor der britischen Botschaft fragen musste, wo denn dieses Lokal am Brandenburger Tor genau sei, in dem Scott McKenzie 2003 das 36-jährige (Schnapszahl) Jubiläum seines Welthits „San Francisco (Be sure to wear some flowers in your hair)“ feierte. Ich mache jetzt mal einen dummen Witz: „Gut für die Erben der Cree-Indianer, dass es die Globalisierung gibt. Jetzt können sie den Spruch ihrer Ahnen ‚Erst wenn der letzte Baum gerodet ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann‘ an die Chinesen verkaufen.“

KW Timm (kwtimm.de), zu dessen Abendprogramm ich ins Tucher gekommen bin, weil er als Bandleader der bessere Reinhard May ist, macht als politischer Kabarettist ungefähr solche Witze. Und die 55-jährigen Herrschaften werden ganz rot und weinlaunig vor Lachen. Ich auch. Zumindest weinlaunig. So schlecht sind die Witze gar nicht – entschuldige das blöde Beispiel, KW Timm –, nur so hoffnungs- und zahnlos auf verlorenem Posten wie jedes politische Kabarett eben. KW Timm singt aber auch ein paar seiner poetisch verschmitzten Chansons voller Hinterhofweisheiten und abgegrastem Herzensgrund. Eigentlich gehen die um so was wie geteilte Kopfkissen und geteilte Himmel und geteilte Unterhaltskosten, aber er lanciert auch einen plumpen Schenkelklopfer, der direkt ins frivole Herz der jung gebliebenen Best-Ager zielt: „Spermaflecken“. Die kleben, lassen sich nur schlecht rausklopfen, leuchten wie Schuppen unter Schwarzlicht in der Disko – aber wer sich vor ihnen ekelt, sollte bedenken: Ohne sie wären ein paar von uns bestimmt nicht hier. Tschubidu, uhuhu.

Erst mal: D’accord, denke ich. Und dann denke ich: Spermaflecken, nicht mein Problem. Ich habe mich in zwei Schritten von der strukturell zugewiesenen Patriarchenrolle befreit. Zuerst sterilisieren lassen, dann Ejakulationsverweigerung verinnerlicht. Denn abspritzen, das ist ein aggressiver Akt gegenüber der Frau. Wie erschießen. Zumindest wie erschießen mit diesen Wasserspritzgewehren, die jeder auf der Love Parade 2003 mit sich rumschleppte. Man stopft ja auch niemandem eine Jägermeister-Flasche in den Schlund und zwingt ihm den Schnaps rein, zumindest nicht, wenn man nicht gerade frischer Rekrut beim Bund ist – oder auf Flatrate-Sauftour – oder gelangweilt zu Hause beim Gucken von „Hüllenlos – nackt gut aussehen“, meinetwegen auch beim Gucken der „Tagesschau“.

Wie das Spermablocken funktionieren soll? Kein Problem. Es gibt ja auch Leute, die behaupten, sie müssten einfach Rotze auswerfen, sonst würden sie ersticken. Wir alle wissen, das ist Quatsch und billige Ausrede. Muss man nicht. La mème avec l’ejaculation. (Das erste Mal überkam mich die Verweigerung bei einer Französin.) Außerdem ist es höhere Gerechtigkeit, wenn die Frau in ihrer verinnerlichten Dulder- und Leidensrolle (die „Wenigerverdienerin“) brüllt und stöhnt, jetzt komm doch, jetzt komm schon, jetzt, jetzt, und ich komme einfach nicht, weil ich einen Emanzipationsschritt weiter bin. Ich komme nicht, für dich, für alle Frauen, gegen das Patriarchat, ich hab’s raus, lerne von mir, meinem Entwicklungsvorsprung, beuge dich meinem a-ejakulatorischen Chakra, Frau, du bist einfach noch nicht so weit, aber ich ziehe dich mit aus dieser verdammten Unterdrückerscheiße, du musst mir nur folgen, folge mir, raus aus der Gockelwelt der spritzenden Männer. Wir machen die sexuelle Revolution noch mal, jetzt aber richtig. Aber eins – und das sage ich kein zweites Mal –, eins zumindest musst du beachten: Be sure to wear some flowers in your hair, wenn du zu mir kommst, zu San Jan, dem Nichtkommer. Tschubidu, uhuhu.

JAN JOSWIG