Oberbürgermeister droht die Abwahl

Der Untersuchungsausschuss zum Fall der verdursteten fünfjährigen Lea-Sophie erkennt „eklatante Mängel“ bei der Schweriner Verwaltung. Stadtoberhaupt Norbert Claussen (CDU) muss sich jetzt einem Bürgerentscheid stellen

VON GERNOT KNÖDLER

Ein Fall fataler Kindesvernachlässigung könnte den Schweriner Oberbürgermeister Norbert Claussen sein Amt kosten. Die Stadtvertretung hat am Montagabend beschlossen, dass sich der CDU-Politiker einem Bürgerentscheid über seine Abwahl stellen muss. Claussen wird vorgeworfen, für den Tod der fünfjährigen Lea-Sophie mitverantwortlich zu sein. Das Mädchen ist in einer Plattenbausiedlung verhungert und verdurstet. Die Abwahl des Sozialdezernenten Hermann Junghans (CDU) war im Februar gescheitert.

Lea-Sophie war am 20. November 2007 mit Hungerödemen und offenen Wunden in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Sie war mit Fäkalien beschmiert. Büschelweise fielen ihr die Haare aus. Als sie am nächsten Morgen starb, wog sie gerade einmal 7,4 Kilo. Das Mädchen hatte ein monatelanges Martyrium hinter sich, das vom Jugendamt trotz mehrerer Hinweise nicht bemerkt wurde.

Ein Untersuchungsausschuss der Stadtvertretung stellte „eklatante Mängel“ bei der Bearbeitung des Falles fest. Akten wurden schlampig geführt. Die Berater tauschten sich nicht genügend untereinander und mit ihren Vorgesetzten aus. Die Sozialarbeiter hätten sich bei der Einschätzung des Risikos auf die Großeltern verlassen, statt selbst nach dem Rechten zu sehen. „Individuelle, strukturelle und Leitungsprobleme“ seien sichtbar geworden.

Der Großvater meldete sich bereits mehr als ein Jahr vor Lea-Sophies Tod zum ersten Mal beim Jugendamt. Das Amt vereinbarte einen Beratungstermin, den die Eltern aber nicht wahrnahmen. Im Juni hakte der Großvater nach, am 12. November wiesen Nachbarn darauf hin, dass das Mädchen nie draußen zu sehen sei. Am selben Tag noch schickte das Amt zwei Mitarbeiter bei der Familie vorbei. Keiner war zu Hause, aber am nächsten Tag präsentierten die Eltern ihr jüngstes, offensichtlich wohl versorgtes Kind. Lea-Sophie befinde sich bei Bekannten, sagten sie. So weit die erste Chronik der Verwaltung. In den Akten selbst recherchierte die SPD-Fraktion einen weiteren Anruf des Großvaters, der das Amt fünf Tage vor Lea-Sophies Tod dringend bat, einzuschreiten.

Nach Bekanntwerden des Falls wies die Verwaltung zunächst die Verantwortung von sich. „Das kann überall wieder passieren“, sagte Sozialdezernent Junghans. „Der, dem es passiert ist, hat in diesem Fall Pech gehabt“, äußerte Bürgermeister Claussen – ein Satz, für den er sich später entschuldigte. Junghans leitet jetzt das Liegenschaftsamt.

Die SPD-Fraktion wirft Claussen vor, er habe mit dem letzten Nachhaken des Großvaters eine wichtige Information verheimlicht. Der Bürgermeister habe aus ähnlichen Fällen in Bremen (Kevin) und Hamburg (Jessica) keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Das Jugendamt war schlechter besetzt, Fortbildungen und Supervision gab es nicht.

Gert Rudolf, der Vorsitzende der Fraktionsgemeinschaft aus CDU und FDP, warf den Fraktionen der Linken, Grünen, SPD und Unabhängigen vor, die Debatte zu einer „unangemessenen Generalabrechnung“ mit Claussen zu nutzen. „Das Instrument Bürgerentscheid wird hier missbraucht.“ Rudolf vermutet, dass sich die vier Fraktionen an Claussen schadlos halten wollen, nachdem die Abwahl des Sozialdezernenten Junghans an der Zweidrittelmehrheit gescheitert ist. Über Junghans war geheim abgestimmt worden, was sieben Abgeordnete zum Ausscheren benutzten. Über den Bürgerentscheid zur Abwahl Claussens wurde namentlich abgestimmt. Claussen selbst sieht keinen Grund, zurückzutreten.