Schöne Orte

Früher schon hat man im Schwarzen Café gefeiert und sich wie in einem französischen Film gefühlt. Auf den Literatouren nehmen Autoren Leser und Hörer mit durch ihre Stadt, in diesem Fall durch ein erinnerungssattes Westberlin. Ein Vorabdruck

Die vollständige Fassung von Elke Schmitters Tour durchs gute alte Westberlin ist ab morgen auf www.literaturport.de nachzulesen. Die Audiofassung ihres Texts hat die Autorin selbst gelesen. Seit Juli 2006 sind auf der vom Brandenburgischen Literaturbüro und dem Literarischen Colloquium Berlin gemeinsam betriebenen Plattform literarische Berlin-Spaziergänge unter dem Titel „Literatouren“ zu finden. Tanja Dückers etwa ist auf einer Schokoladen-Tour durch die Stadt gegangen, Tilman Rammstedt trieb sich nachts in Bars und Cafés herum. Kristof Magnusson hat eine Tour zusammengestellt „für alle, die Berlin ohne Begleitung kennen lernen möchten“. Weitere Literatouren von Bas Böttcher,Thilo Bock, Veronika und Christoph Peters sind bereits online zu lesen und zu hören. Es folgen in den nächsten Monaten Texte von Judith Hermann, Katja Müller-Lange, Julia Franck, Ingo Schulze, Inka Parei und Wolfgang Schlüter. Im Frühjahr 2009 wird das Buch zur Serie im Schöffling Verlag erscheinen.

VON ELKE SCHMITTER

Ich komme nach Berlin zurück und frage mich zuerst: Ja, ist denn heute Sonntag? Die Straßen so breit, die Bäume so grün, der Leute so wenig. Nirgends Stau, keiner hupt, kein Gedrängel im Bahnhof – nicht eine einzige Verdichtung von Menschen, wie meine Erinnerung sie gerade mitgenommen hat (vorausgesetzt, ich komme nicht aus Hannover, sondern aus einer beliebigen europäischen Hauptstadt): das große Geschiebe in Istanbul, laut und dabei gelassen; die schnell gehenden, schnell schwatzenden Madrider; die stoisch in die Tube gedrückten Londoner; die vielen schweigenden, halb erstarrten Pariser; die diskret sich durch die Touristen fädelnden Stockholmer; die hupenden, schreienden Römer … nichts von alledem.

Ich steige Savignyplatz aus – hier eine Ahnung von Großstadt schon in der ewig kratzenden Erinnerung, dass einer mal gesagt hat, es lägen Spritzen herum (habe aber niemals eine gesehen), und im diskreten Schwarzen Café: hat Leuchtschrift nicht nötig, ist gleich die Treppe hoch. Auf dem Weg dahin kann man vorbeischauen an der Paris Bar – immer noch da – und dort im Fenster Prominente und Touristen sehen, die Prominente sehen wollen. Aber nein, ich geh nicht rein.

Das Schwarze Café

Das Schwarze Café ist, meiner Erinnerung nach, ein Ort für ab drei Uhr in der Früh, in beliebiger, möglichst interessanter Gesellschaft, die sich notwendig in jenem freundlichen Halbkoma befindet, das Zähigkeit, Gleichmut und Abenteuerlust zu gleichen Teilen verbindet, sonst ist das alles nichts: der Käsetoast nicht, der traurige Rotwein, das existenzialistische Dunkel und der lange Weg die Treppe hinunter, wenn es denn irgendwann sein muss.

Aber nein, ich geh nicht rein. Ich bewahre mir die Erinnerung an den letzten Besuch dort, nach der Geburtstagsfeier einer Kollegin, an die nicht herzlich genug gedacht werden kann – mit einem Bildhauer und einem Lyriker, beide so sehr Osten, wie ich immer schon Westen war, und beide so verbunden mit ihrem Tran aus Soli und Stulle wie ich mit meiner proseccodünnen Libertinage, so dass wir uns eigentlich rein gar nichts zu sagen gehabt hätten, wären nicht Bruder Alkohol und Schwester Schwarzes Café gewesen, das wir in einer Art Jules-und-Jim-Euphorie betraten und wieder verließen – ohne nach Paris zu fahren, ohne nach Brandenburg zu siedeln und dort Worpswede zu spielen, aber doch immerhin in einer Trance von Möglichkeiten, an die jedenfalls ich mich besser erinnern kann als an manche gelebte Stunde.

Gelobt also sei das Schwarze Café. „Richtig schön“ ist es nicht, aber wenn man da ist und in der richtigen Verfassung, findet man alles schön und braucht nur einen Platz, wo man das Leben schön finden kann, ohne nach Hause zu gehen. Also gehört es hierher.

Denn wie die Überschrift schon sagt, geht es mir um schöne Orte im Westen dieser Stadt, von der man allerhand sagen kann, aber dass sie schön sei, das hat noch kaum einer behauptet. Muss ja auch nicht. Interessant ist gut, viel Platz ist gut, die Mieten sind in Ordnung, und es gibt das richtige Hin und Her von Leuten aus aller Welt, die hier vorübergehend oder dann doch für immer ihr quasi stationäres Gleichgewicht finden. Es gibt die verlässlich lustige taz, aus deren Berlin-Teil ich regelmäßig erfahre, wie es um die russische Mafia in Wannsee steht, den ukrainischen Zigarettenschmuggel, asiatische Prostituierte und Bollywood in Kreuzberg, um Video-Kunst am Prenzlberg, türkisches Stadtteiltheater im Wedding und den Club der Polnischen Versager in Mitte. Es ist schon herrlich, eine Zeitung zu haben, die einem das wilde Leben ans Sofa bringt. Der virtuelle Spaß, wenn man die Vortragstitel liest, die Kleinanzeigen („Trauer-Gruppe mit Claudia. 12 Sitzungen, jeweils 2 Stunden. Telefon …“) oder Artikel über Weinlokale in Kreuzberg, bei denen der Kunde bezahlt, was er für angemessen hält – das alles ist schon knorke, wie der Stadtführer aus Westdeutschland sagt, und immer noch knorke ist es zweifellos, wenn man, wie ich, aus familiären Gründen mühsam von Nacht- auf Tagmensch umgeschaltet hat und all das pflegt als liebgewordene Erinnerung.

Denn nicht nur hin & wieder gab es diese Abende, an denen man irgendwo reinging, in irgendeine Bar („Madonna“ in Kreuzberg, gibt es die noch?), in irgendein Theaterchen, in irgendeine Film-Retro (alle „Indiana Jones“-Folgen in einer Nacht) und, wie man so schön sagt, seine Jugend verschwendete. Jetzt gibt’s nix zu verschwenden, so im Augenblick bei mir, jetzt muss die Zeit bewirtschaftet sein, und das ist ein großes, nicht enden wollendes Übel, das auch das Verhältnis zum Raum bestimmt.

Wenn man wenig Zeit hat, braucht man kleine Wege. So bewegt sich ein Großteil meiner Berliner Existenz in einem Geviert zwischen Gemüsemann & Kinderladen, Café, Supermarkt & Kino, und den guten Freunden in sonstiger Nähe. Die Komische Oper, in die ich praktisch täglich gehen würde, wenn ich könnte, ist eine kleine Reise von meiner örtlichen Basis aus, die eben klein ist, aber schön. Denn ich bin, was das betrifft, empfindlicher geworden; ich will es schön haben, aber nicht Vorstadt, und da kann ich den Ludwigkirchplatz nur empfehlen.

Ludwigkirchplatz

Er sieht aus wie die Mitte der Welt, für meine eurozentrischen Augen, und am beginnenden Abend, wenn alle Wege Heimwege sind, ist er ganz überirdisch schön, und zwar zu jeder Jahreszeit: Im Herbst, wenn die Platanenblätter leuchten, vom letzten Sonnenlicht in Flammen gesetzt; im Winter, da der ganze Platz schon um vier Uhr an den St.-Martins-Zug erinnert, der hier mit einem Schimmel und hunderten von Kindern seinen Anfang nimmt; im Sommer, wenn die Kleinen laut lärmend den Aufbruch verzögern und die Erwachsenen Tischtennis spielen, auf den Bänken Kaffee schlürfen und den Jugendlichen dabei zusehen, wie die sich auf ihren Skateboards den Hals beinahe brechen. Sogar jetzt, in der dürftigsten Zeit – Wärme & Licht noch unendlich weit weg, die Bäume wie die Aussichten kahl – ist hier noch das urbane Dorf in seiner halben Poesie zu spüren. Es gibt Pensionäre mit und ohne Hunde, und Rentner gibt es auch, und den Charlottenburger/Wilmersdorfer Schick in allen Preislagen – Pelzkrägelchen und Zobelmantel. Es ist eben Westberlin.

Eine Erinnerung an früher, als noch alles besser war (und man vor allem nicht immer „früher“ sagen musste, wie Peter Handke treffend bemerkte, als es manchmal noch komisch sein durfte bei ihm), ist in der Düsseldorfer Straße, ein paar Minuten von hier, die „Biographische Buchhandlung“ – Erinnerung nicht nur wegen der schwarz-weißen Plakate, aus denen Göttinnen der Prosa, alt & neu entdeckt (Virginia Woolf und Elizabeth Bowen) den Betrachter übersehen, Erinnerung nicht nur wegen des Zigarettenrauchs in der Luft und der sinnreich geordneten Stapel zueinander passender Literatur, sondern auch wegen jener Tugend, die bei Hugendubel, Thalia u. dgl. nicht aus Versehen, sondern aus Prinzip nicht mehr gepflegt wird und werden kann: das Denken und Bewahren in Zusammenhängen und das Stiften von denselben durch Bewahren und Denken. Wer hier verkauft, der liest noch selbst und stellt sein Gedächtnis außerdem zur Verfügung; wer hier etwas sucht, kommt allein durchs Stöbern in der Tiefe der Regale auf mehr, als er suchte. Dass Kekse auf dem runden Tisch in der Mitte stehen, dass hin und wieder Kunden bei Kaffee auf neue Gedanken kommen, stört mein schlichtes Konsumentengemüt ganz & gar nicht, da diese Geste nicht der allgemein moralisch und ökologisch verlotternden Überrumpelungstaktik entspringt, sondern dem reinen Herzen der Eigentümerin: Wir verkaufen das, weshalb Sie hergekommen sind, ohne Sonderangebot & Huckepackgeschäft & Schreierei. In diesem Unter waltet der Schied.

Krumme Lanke

Was bleibt?

Natur. Auch um Berlin herum soll es sie geben, aber das Brandenburgische ist nicht das meine; ich will es niemandem verderben, kann es aber auch nicht loben, sondern halte mich an das innerstädtische Grün, für das Berlin gerechterweise eine kleine Berühmtheit erlangte: Wälder & Wasser quasi mittendrin. Wer am deutschen Brauch des Sonntagsspaziergangs festhält, ist an der Krummen Lanke joldrichtig, wie der Stadtführer aus dem Westen sagt: eine knappe oder gute Stunde, je nach Kondition, und man ist rum. Die neuzeitliche Kollision zwischen dem Recht des Gehers und dem des Joggers kann auch hier nicht umgangen werden, wird aber durch Enge und Beschaffenheit des Weges in erträglichen Grenzen gehalten: Abschüssigkeit, größere Wurzelknoten und folglich Disposition zur Pfützenbildung machen den Pfad zu einem Parcours, der für Spaziergänger leicht, für Läufer nur mit erhöhter Aufmerksamkeit zu absolvieren ist; die gelegentlichen Kinder und Hunde sorgen außerdem dafür, dass der Sport hier keine rechte Freude bringt.

„Sonntagsspaziergang“ sagte ich, weil durch das Rund (man sieht fast jeden zweimal), die Intimität des Weges und die leis homogene Zusammensetzung der Besucher der Eindruck entsteht, den einen oder anderen zu kennen, selbst wenn man ihn nicht kennt. Da für mich das gelegentliche Grüßen und der anhängige Klatsch („Sind die nun eigentlich geschieden?“) zur Idee und Praxis des Sonntagsspaziergangs dazugehören, ist die Suggestion von gesellschaftlichem „Kennen“ untergründig beruhigend, deshalb gehe ich hier auch gern sonntags (und „treffe“=grüße doch auch fast immer einen, den ich „wirklich kenne“), während die Krumme Lanke unter der Woche von all dem unberührt nur das ist, was sie immer ist: ein typischer Berliner See, bescheiden und verschwiegen, im Winter und zumal bei Eis und Schnee von breughelschem Zauber. Wenn die mit Graffiti bepinkelten Schilder nicht wären, die das Entenfüttern freundlich untersagen, man wähnte sich im Elysium.