berliner szenen Im ICE (5)

Patenkinder

„Ich war bei meinem Ersten dreizehn“, sagt sie. „Sie haben auch Geschwister?“, frage ich. „Nein, ich bin Einzelkind, leider. Ich hätte gerne einen großen Bruder gehabt.“ Wir sitzen im ICE nach Berlin. Nachdem sie mich gebeten hat, ihren Koffer ins Gepäckfach zu legen, sind wir ins Gespräch gekommen. Sie wohnt auch in Friedrichshain. Ich habe ihr von meinem Neffen erzählt, mit dem ich gerade ein Patenkindabenteuerwochenende verbracht habe. „Es kam ziemlich überraschend“, sagt sie. „Es lag praktisch an Heiligabend unter dem Weihnachtsbaum.“

Das war bestimmt eine schöne Bescherung, denke ich, sage es aber nicht laut. „Sie sehen ja ganz geschockt aus“, meint sie. Sie sieht mich amüsiert an. „Sie denken, ich spreche von meinem eigenen Kind, oder?“ „Etwa nicht?“ Sie schüttelt den Kopf. „Von meinem Patenkind, genau wie Sie.“ „Wer wählt denn ein dreizehnjähriges Mädchen als Patin aus?“, frage ich verwirrt. „Meine Eltern“, sagt sie. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.

Sie grinst. „Es ist ganz einfach: Meine Eltern haben mir Weihnachten 1985 die Patenschaft für ein Kind in Äthiopien geschenkt, nachdem wir in der Schule über Entwicklungsländer gesprochen hatten, und ich unbedingt etwas ändern und helfen wollte.“

„Ein Patenkind in Afrika. Da kommt man aber auch nicht so ohne Weiteres drauf“, sage ich. „Ganz schön frühreif.“ Sie streckt ihre Nase nach oben. „Genau. Ich war meinem Alter weit voraus. Als die anderen Mädchen in meiner Klasse noch mit Barbies gespielt haben, trug ich schon Verantwortung für ein Patenkind.“ Wir müssen beide lachen. Sie hat schöne Augen. So schön, dass ich mir vorstellen könnte, eine Patenschaft für sie zu übernehmen. Auch wenn sie schon Mitte dreißig ist. DANIEL KLAUS