Zeugenschaft, trotz allem

Heute und morgen bietet sich im Arsenal die seltene Gelegenheit, Claude Lanzmanns neuneinhalbstündigen Dokumentarfilm „Shoah“ unter den konzentrierten Wahrnehmungsbedingungen des Kinos zu sehen

Elf Jahre lang, von 1974 bis 1985, arbeitete der Journalist und Regisseur Claude Lanzmann an seinem Dokumentarfilm „Shoah“, der bis heute als paradigmatische künstlerische Auseinandersetzung mit der Vernichtung der europäischen Juden gilt. Unter Verzicht auf jedes Archivbild verdichtet und arrangiert der neuneinhalbstündige Film jene rund dreihundertfünfzig Stunden Material, die Lanzmann im Lauf der Jahre gedreht hat. „Shoah“ ist im Kern ein komplexes Montagekunstwerk, das Zeugenaussagen so ineinander webt, dass sich zugleich eine Reflexion über die „historische Krise der Zeugenschaft“ (Shoshana Felman) entfaltet. Lanzmanns Film kreist um die Frage, wie der radikalen Spurlosigkeit der Vernichtung ästhetisch und erinnerungspolitisch entsprochen werden kann.

Heute und morgen besteht die seltene Gelegenheit, „Shoah“ unter den konzentrierten Wahrnehmungsbedingungen des Kinos zu sehen. Das Kino Arsenal zeigt den Film in zwei Teilen, auf Initiative der Zeitschrift Spex hin. Die persönliche Anwesenheit des mittlerweile 83-jährigen Regisseurs ist für beide Vorführungen angekündigt. Äußerer Anlass für die Veranstaltung sind die deutschen DVD-Erstveröffentlichungen von Lanzmanns Debütfilm über den israelischen Staat „Pourquoi Israël“ (1972) und „Shoah“ bei Absolut Medien.

Lanzmann ist nach wie vor äußerst präsent, zumal in Frankreich: als Herausgeber der Zeitschrift Les Temps Modernes, als interventionsfreudiger öffentlicher Intellektueller, als moralische Instanz. Zuletzt beteiligte er sich prominent an der Auseinandersetzung um Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“, dem er erst ablehnend, dann mit zurückhaltender Anerkennung begegnete, und an der vor allem in Les Temps Modernes kritisch geführten Debatte über Georges Didi-Hubermans fotografietheoretischen Entwurf „Bilder trotz allem“, in dem der Kunsthistoriker die Evidenzkraft des Archivbildes auslotet und gegen den Topos der „Undarstellbarkeit“ der Shoah polemisiert.

„Shoah“ bildet gerade auch deshalb das Zentrum von Lanzmanns Werk, weil sich das nicht verwendete Material seit einigen Jahren zu kristallisieren beginnt und neu zirkuliert. Den Anfang machte „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ (2001), in dem Yehuda Lerner von dem einzigen erfolgreichen Aufstand in einem Vernichtungslager Zeugnis gibt. Die Aktion wird in „Shoah“ nicht vertieft. Lanzmann wollte dem jüdischen Widerstand einen eigenständigen Film, nicht nur eine Episode widmen. Vergangenen Oktober war im Österreichischen Filmmuseum weiteres, wenngleich ungeschnittenes „Shoah“-Material zu sehen: das erste Gespräch, das Lanzmann 1975 mit dem umstrittenen Wiener Rabbiner und späteren „Judenältesten“ im Lager Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, für seinen Film geführt hat.

Nicht nur weil in Zukunft weitere „Outtakes“ öffentlich zugänglich werden könnten, scheint es an der Zeit, die verzweigte Rezeptionsgeschichte von „Shoah“ einerseits zu historisieren und andererseits innerhalb gegenwärtiger Erinnerungspolitiken neu zu verorten (wie kürzlich in einem Sammelband geschehen, den Stuart Liebman herausgegeben hat). Mit Blick auf den anstehenden 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels ist „Tsahal“ (1994), Lanzmanns relativ unbekannter Film über die israelische Armee, von besonderem Interesse – er liegt bedauerlicherweise selbst in Frankreich noch nicht auf DVD vor. Auch wenn sich die Perspektiven auf „Shoah“ immer komplexer auffächern und es zu weiteren werkinternen Fortschreibungen kommt, bleibt die „definitive“ Form des Films davon unberührt. Die darin geleistete Vermittlung von historischem Wissen und Trauerarbeit ist auch filmgeschichtlich singulär: Zeugenschaft trotz allem.

SIMON ROTHÖHLER