berliner szenen Im ICE (4)

Pizza im Orient-Express

Mit dem Einfahren im Hauptbahnhof schlage ich die letzte Seite auf. Nach sechs Monaten. Ich lese nicht viel und auch nicht schnell, was sich gegenseitig bedingt. Im Übrigen ist das beim Essen und Radfahren ähnlich, aber da bin ich besser. Im Juli beim Abflug in die Ferien habe ich das Buch angefangen und in Afrika ein paar Seiten vor mich hin geblättert. Während wir nach Löwen Ausschau hielten, wurde die Geliebte des Grafen beim Kuraufenthalt auf Rügen im Fango-Becken ersäuft. Das passte irgendwie nicht. Vermutlich ist das der Grund, warum Bücher ewig auf meinem Nachttisch liegen: Der Inhalt passt einfach nicht zu meinem Alltag.

Dabei wäre das von Vorteil: Beim Zugfahren sollte es ums Zugfahren gehen. Klasse wäre da zum Beispiel „Mord im Orient-Express“. „So’n Quatsch,“ meinte Eva neulich, „beim Essen ist das ja auch kein Problem. Während du von Juli bis Januar genau ein Buch hingekriegt hast, konntest du gut 15 Pizzen essen, obwohl du in dieser Zeit nicht in Italien warst. Oder willst du mir weismachen, du denkst bei jedem Bissen an eine Stadt in der Toskana?“ Weil mir auf die Schnelle nichts einfiel, argumentierte Eva weiter: Essen sei ein Überlebenstrieb, Lesen nicht – zum Glück klingelte das Telefon, und sie kam nicht dazu, auch noch den Bogen zum Radfahren zu spannen. Denn da bin ich heikel. Radfahren gehört schließlich zu jenen Dingen, die ich richtig gut kann. Bloß beim Lesen habe ich eben mein ganz eigenes Tempo.

Aber immerhin hat bei diesem Buch mein Timing gestimmt: Mit Ankunft im Hauptbahnhof schlage ich die letzte Seite auf. Gut gemacht! Und was sind schon sechs Monate, sage ich mir, während ich zur Belohnung die nächste Pizzeria ansteuere. JOCHEN WEEBER