Wenn in der S-Bahn laut gelesen wird

Der Fahrschein als Eintrittskarte: Die Agentur S3 LiteraturWerke lud am Freitagabend zur Ringbahnlesung an den Bahnhof Ostkreuz. Sechs Autoren trugen aus ihren Werken vor, während die S-Bahn einmal um Berlin herumfuhr

Mal was auf die Beine stellen, was es so noch nicht gab? Als Künstler, Autor – heutzutage, in der wievielten Postmoderne noch mal? Manchmal klappt das, und der Mut wird belohnt. Zum Beispiel auf der dritten Ringbahnlesung der S[3]LiteraturWerke in Kooperation mit der S-Bahn. Auch wenn der starke Andrang hier wohl eher dem Eventcharakter als dem Ruf der sechs eher unbekannten Berliner Literaten geschuldet ist.

Dank Myspace-Seite, dem tip-blog und einem in diversen Videologs kursierenden Werbeclip lockten die Veranstalter an einem kalten Februarabend eine studentisch geprägte 70-köpfige Zuhörerschar in die Ringbahn S 42. Treffpunkt: Ostkreuz, 20.01 Uhr, letzter Waggon. Als Eintritt reicht ein gültiger Fahrschein. Viele bleiben die ganze einstündige Runde, um den Stimmen von Philip Maroldt, Björn Schäfer und Tom Bresemann (alle von S[3]LiteraturWerke) sowie ihren befreundeten Autorinnen Lilly Jäckl, Anne Köhler, Greta Granderath im Kampf gegen die Geräuschkulisse einer S-Bahn-Fahrt zu lauschen.

Ostkreuz, 20.01 Uhr: Los geht’s. Großes Gedränge im letzten Wagen. Fast viermal so viele Leute wie bei der zweiten Ringbahnlesung vor fünf Monaten. Mittendrin die Autoren. Gute Idee, dass sie nach kurzer Begrüßung zwei Leseorte eröffnen, wo sie nacheinander in 10-Minuten-Blöcken lesen. Alle Sitzplätze sind belegt, die Vortragenden von Menschentrauben umringt. Vorne wird gestanden, hinten im Abteil liest ein Autor auf einem mitgebrachten Stuhl. Hier erzählt Anne Köhler vom Austernschlürfen im KaDeWe, von Regalen mit altem Balsamico und Pralinen. Die Situationskomik ihrer Schilderungen bekommen leider nur die Fahrgäste in den ersten zwei Reihen so ganz mit. Alle Autoren haben Mühe, sich gegen den notorisch hohen Lärmpegel zu behaupten.

Warum tun Literaten sich das freiwillig an? „Wir sehen uns nicht als Autorenklub oder als Lesebühne“, sagt der Lyriker Tom Bresemann (Gedichtband „Makellos“, Verlagshaus J. Frank). 2005 gründete er mit Schäfer und Maroldt die S[3]LiteraturWerke, die vor allem Lesungen organisieren. Kennen gelernt haben sich die drei beim Literaturstudium an der TU. „Uns fasziniert Poesie, wir wollen Literatur nicht im abgeschlossenen Salon, sondern in einem durchlässigen Format verbreiten, im Sinne einer transitorischen Bewegung.“

Da ist der Sprung in die Ringbahn nur konsequent: ein provisorischer Aufenthaltsort, der sich ständig bewegt. Schnell wechselnde Momentaufnahmen urbaner Lebenswelt prägen auch die Texte der begabten Jungliteraten. Das passt. Hier bringen sie die Literatur zurück an einen ihrer Ursprünge: in den rein öffentlichen Raum. Dabei werden ihre Vorträge zum Teil eines Klangbildes, das sich auch aus Ansagen, Fahrgastkommentaren und Nebengeräuschen speist. Ein gewagtes Experiment. Sie treffen auf ein Publikum, das teils ihretwegen gekommen ist, teils aus nichts ahnenden Zugestiegenen besteht. Klar, dass sich da auch unbeabsichtigte Schnittmengen ergeben.

Neukölln, 20.07 Uhr: Drei Jugendliche steigen zu, finden mit Mühe einen Stehplatz. „Was is’ hier denn los?“, fragt der eine verdutzt. Sein Kumpel tippt lautstark auf Scientology. Der dritte findet die Lesung aber „voll cool“. Von einer Verbalattacke eines später zugestiegenen Jugendlichen („Was soll der schwule Scheiß?“) lassen sich die Autoren nicht beeindrucken. Viele Zuhörer bleiben bis zum Ende der Fahrt aufmerksam, während andere unbeteiligt im eigenen Buch lesen oder eine SMS schreiben. Zwischendurch brandet immer wieder Applaus auf.

LUTZ STEINBRÜCK

www.s3-berlin.de, www.myspace.com/s3literaturwerke; www.berlinonline.de/tip/club/forum/realitylive