Eine Handvoll Süßes am Tag

Schokolade, Ice Tea, Gummibärchen – Kinder lieben Süßwaren. Das wird schon Säuglingen in die Wiege gelegt. Doch zu viele Naschereien können dick und krank machen. Rationierung und klare Regeln verhindern zudem ein Essverhalten, bei dem Süßigkeiten als Stresskiller missbraucht werden

Eltern sollten ihre Kinder so spät wie möglich an Süßigkeiten heranführen

„Mama, bitte!“, kreischt das blonde Mädchen. Zwischen Bergen von Bonbontüten und Schokotafeln liegt es heulend auf dem Boden. „Nur einer“, ruft sie und reckt den Schokoriegel Richtung Kinderwagen. „Anna, nein!“, sagt die Mutter beschwörend. Verzweifelt sieht sie dabei aus. Rentner tuscheln, neugierig, wie der Kampf wohl ausgeht. Und Anna gräbt ihre Hände nun noch tiefer ins Schokoparadies. Eltern kennen das: Kinder und Süßes scheinen beim Einkauf automatisch zu einer klebrigen Masse zu verschmelzen. Trennung nur unter Tränen. Warum das so ist? Mediziner und Wissenschaftler sagen: der Hang zum Süßen ist genetisch verankert. Bereits Säuglinge, das zeigen Studien, reagieren positiv auf Süßes wie etwa Muttermilch oder Honig. Genau dies wird für manche Eltern zum ersten Stolperstein bei der Erziehung der Kleinsten.

„Einige frisch gebackene Mütter reagieren auf das Schreien eines Säuglings aus Unsicherheit oder Bequemlichkeit ausschließlich mit Stillen oder einer Flasche Milch. Den Säugling mit Milch zu beruhigen ist einfach. Denn das Süße löst bei ihm eine positive Reaktion aus. Aber solche Trost- oder Belohnungsprinzipien sind gefährlich und falsch. Vielleicht will das Kind ja auch nur eine Abwechslung oder Aufmerksamkeit?“, erklärt der emeritierte Psychologieprofessor Reinhold Bergler.

Mit solch einem Verhalten wird in den ersten Jahren der Hang zum Süßen unbewusst gefördert. Michael Macht, Verhaltenstherapeut an der Universität Würzburg, erklärt: „Kinder erlernen ein sogenanntes emotionales Essverhalten: ‚Mir geht es schlecht, ich habe Stress, also brauche ich Süßes.‘ Die biologische Tendenz unterstützt diesen Affekt. Fazit: Diese Kinder gehen in Stresssituationen nicht joggen oder lenken sich ab, was denselben Effekt hätte, sondern sie essen Schokolade.“ Später nutzen Kinder früh erlernte Reiz-Reaktions-Muster auch als Strategie, um an Süßes zu gelangen. Zum Beispiel schreien sie im Supermarkt so lange nach Eis, bis die Eltern entnervt nachgeben. Bergler, der auch Gründer des Nürnberger Zentrums für Genussforschung ist, betont: „Den Grundstein für einen vernünftigen Umgang mit Süßem legen allein die Eltern.“

Doch was ist vernünftig? Fachleute sind sich einig: Verbote bringen nichts! „Die heizen Kinder nur an“, weiß Chefarzt Helmut Langhof von der Adipositas-Klinik Schönsicht in Berchtesgaden aus Erfahrung. Er rät: „Süßigkeiten müssen rationiert werden. Neben den drei Hauptmahlzeiten kann man Grundschülern Obst und ein Pausenbrot einpacken, um einem Zuckermangel vorzubeugen. Aber man sollte sie nicht mit Geld zum Bäcker schicken. Kinder sind dann überfordert und kaufen nur Süßes.“ Das macht dick und krank.

Laut einer Bayerischen Jugendstudie legen Kinder und Jugendliche derzeit bereits 42 Prozent ihres Taschengelds in Süßigkeiten an. 19 Prozent naschen nach einer Jenaer Jugendstudie mehrmals täglich. Tendenz steigend. Ökotrophologin Elvira Schwörer von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg schult darum landesweit Lehrer, Erzieher oder Schüler. Ihr Rat: „Kinder so spät wie möglich an Süßes heranführen. Bei den Kleinsten sollte man den angeborenen Heißhunger auf Süßes mit geschnittenem Obst stillen.“ Später müssen klare Regeln herrschen. Eine könnte heißen: Es gibt nur einmal am Tag eine Süßigkeit. Die darf das Kind selbst wählen – es bestimmt also mit. Ihre Faustregel: „Zehn Prozent des Energiebedarfs eines Tages können zuckerhaltig sein. Dazu zählen auch Säfte, Kuchen, Fruchtjoghurts. Süßstoffe sind nicht erlaubt.“ Ein Vierjähriger mit einem Tagesbedarf von 1.500 Kilokalorien dürfte also fünf Stücke Schokolade essen. Vorsicht vor Schokoriegeln: Ein 16-Jähriger (2.400 Kilokalorien Tagesbedarf) nimmt mit einem Nussriegel, der etwa elf Stück Würfelzucker enthält, doppelt so viel Süßes zu sich, wie er sollte.

Die Berliner Kinderärztin Elke Jäger-Roman baut auf eine unkomplizierte, aber wirkungsvolle Regel: „Kinder bekommen täglich nur so viel Süßes, wie in eine ihrer Hände passt. An Geburtstagen darf es auch ein bisschen mehr sein.“ Sie appelliert an die Vorbildrolle der Eltern: „Nascht Mama nebenbei oder vermeintlich heimlich, nützen die besten Regeln nichts.“

Doch wie können Eltern jene peinlichen Supermarktszenen vermeiden? Wie vermittelt man Kindern Kompetenzen im Konsumdschungel? Die These, allein Werbung sei am Ernährungsdilemma schuld, gilt bei Experten längst als überholt. Psychologe Bergler sagt: „Werbung stellt beim Kauf nur eine Sekundärmotivation da. Wenn ein Kind sich von ihr beeinflussen lässt, hat es bereits entschieden, dass es Süßes will. Meist handelt es ähnlich wie seine Eltern.“ Werbeforscher Ingo Barlovic bestätigt das: „Werbung beeinflusst nicht, ob und wie viel Kinder kaufen, sondern letztlich, welche Marke sie kaufen.“ Da Kinder Werbung zwar irgendwann durchschauen, aber trotzdem von ihren Gelüsten gesteuert werden, empfehlen Barlovic und Verbraucherschützerin Schwörer, beim Einkauf Prinzipien einzuhalten: Jedes Kind darf sich eine Leckerei aussuchen. Dann ist Schluss. Kein Nachgeben bei Quenglern.

„Mit Jugendlichen sollten Eltern außerdem über Inhaltsstoffe und Zuckermengen reden und so angeblich ‚gesunde‘ Produkte wie Ice Tea entlarven“, empfiehlt Mediziner Langhof. Schüler sollen zielgerichtetes Einkaufen trainieren. Also mit den Eltern einen Einkaufszettel schreiben und anschließend die Waren im Supermarkt suchen. „Dies ist für viele so spannend, dass sie die Schokolade darüber vergessen“, sagt Verbraucherberaterin Schwörer. JANET WEISHART