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: Was Andreas Steinhöfel anfasst, hat Hand und Fuß. So auch sein neuer Kinderroman mit Rico und Oskar

Manchmal denkt man als Kritikerin ja: Wenn einer schon bekannt ist, muss man ihn den Lesern nicht mehr vorstellen. Einer wie Andreas Steinhöfel zum Beispiel. Genau. Jener, dessen zweiter Jugendroman „Paul Vier und die Schröders“ heute gängige Schullektüre ist und der vor zehn Jahren mit der Adoleszenzgeschichte „Die Mitte der Welt“ einen Klassiker geschrieben hat, der sich sogar in den USA verkauft.

Seither gehört Andreas Steinhöfel zu denen, die man halt kennt. Glaubt man. Und irrt sich leicht.

Steinhöfel macht vieles: aus dem Englischen übersetzen (zum Beispiel Jerry Spinelli und Roddy Doyle), Rezensionen schreiben und Drehbücher (lange Zeit für den „Käpt’n Blaubär Club“). Und ganz frisch ist auch wieder ein Kinderroman von ihm erschienen. Um es gleich zu sagen: Lesen Sie dieses Buch! Verschenken Sie es! Empfehlen Sie es! Es ist nicht teuer, sehr unterhaltsam, spannend, intelligent, passend für Kinder, die nicht mehr klein und noch nicht groß sind. „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ ist kein Jahrhundertroman und auch nicht Steinhöfels bedeutendstes Werk, aber es ist richtig gut.

So, nun endlich ein paar Fakten. Held Nummer eins der Geschichte ist Rico Doretti, wohnhaft in Berlin-Tempelhof, wo die Flugzeuge im Landeanflug rüberdüsen. Italienischer Vater (leider tot), deutsche Mutter, die im Nachtclub arbeitet (ist leider tagsüber so gut wie tot, da muss sie nämlich schlafen). Was nichts heißt. Rico hat eine nette Mutter und die Mutter einen netten Sohn. Allerdings ist er „tiefbegabt“. Rico kann links und rechts nicht unterscheiden und verliert die Orientierung, sobald er um die nächste Straßenecke biegt. Er kann null Rechtschreibung und auch nicht rechnen (weshalb die Mutter der Kassiererin im Supermarkt droht, ihr beide Arme zu brechen, falls sie Rico falsch rausgibt).

Held Nummer zwei heißt Oskar. Er ist zwei Kopf kleiner als Rico, hat Segelohren und trägt einen blauen Motorradhelm mit Visier – nicht nur zum Fahrradfahren, sondern auch wenn er zu Fuß unterwegs ist. Das Leben ist gefährlich. Der Helm soll ihn schützen. Mit Helm sieht Oskar dämlich aus. Das macht nichts. Oskar ist hochbegabt. Er berechnet die Entfernung zum Mond im Kopf, hat ein enzyklopädisches Gedächtnis und schafft es sogar, dem Aldi-Entführer auf die Spur zu kommen. Der heißt so, weil das Lösegeld, das er für entführte Kinder erpresst, nur 2.000 Euro beträgt – ein echter Discounter unter den Entführern.

Hochbegabt und tiefbegabt also, Oskar und Rico, eine Freundschaft zwischen zwei denkbar Ungleichen beginnt. Außenseiter sind sie beide. „Es ist merkwürdig, dass die Leute mit einem nicht so Schlauen genauso wenig anfangen können wie mit einem nicht so Dummen“, sagt Rico. Das ist klug, wie so vieles, was er denkt. Und klug ist es von Steinhöfel, dass er die Welt durch dessen Augen sieht. Ein Tiefbegabter als Icherzähler – das ist smart. Und es macht die Geschichte keineswegs kurios. Rico ist kein geschrumpfter Forrest Gump, er ist keine witzige Figur. Er verfügt über einen enormen Reichtum an Wahrnehmung, nur mit der Deutung der Wirklichkeit tut er sich schwer.

Geschickt von Steinhöfel ist auch, dass er seine hoch- und tiefbegabten Helden im selben Milieu leben lässt – im Grunde ein echter Unterschichtsroman. Aber da wird nicht eben mal zu den Schmuddelkindern rübergeglotzt, der Erzähler bewegt sich frei und selbstverständlich in diesem Milieu – was so ziemlich das Gegenteil einer auf Distanz angelegten Milieustudie ist. Aus dieser Position des Mittendrin erscheint vieles, was gerade als Weisheit kursiert, als das, was es eigentlich ist: als Ressentiment.

Mütter, die ihren Kindern Fastfood statt Bio geben, sind lieblos? Bitte den neuen Steinhöfel lesen.

ANGELIKA OHLAND

Andreas Steinhöfel: „Rico, Oskar und die Tieferschatten“. Mit Bildern von Peter Schössow. Carlsen Verlag, Hamburg, 224 Seiten, 12,90 Euro