Vom Kinderzimmer auf die Platte

Obdachlosenmagazin schlägt Alarm: Anteil der jungen Verkäufer hat sich verfünffacht. 250 junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren lebten in Notunterkünften, die für Erwachsene gedacht sind

VON KAJIA KUTTER

Eigentlich sei die Zahl der Hinz & Kunzt-Verkäufer rückläufig, berichtet Sozialarbeiter Stefan Karrenbauer. Doch in jüngster Zeit gebe es einen Strom junger Obdachloser im Alter von 18 bis 25 Jahren, die einen Verkäuferausweis beantragen. „Früher waren das immer so um die zehn im Jahr. In 2007 waren es mehr als 50“, sagt er. Erst gestern waren wieder zwei 18-Jährige bei ihm. Mittlerweile sei jeder dritte Neue ein ganz junger.

Für den Sozialarbeiter ein Indiz, dass die Zahl der jungen Wohnungslosen steigt. Viele, die kommen, hätten noch nie gearbeitet, keinen Abschluss und wurden von ihren Eltern vor die Tür gesetzt, sagt er.

Das Thema ist Schwerpunkt der neusten Hinz & Kunzt-Ausgabe, in der unter dem Titel „Vom Kinderzimmer auf die Straße“ fünf junge Menschen ihre Geschichte erzählen. Der 25-jährige Florian aus Rahltsedt zum Beispiel lebt mit drei Erwachsenen Obdachlosen in einem Zimmer der Unterkunft Sportallee. Dort sei es besser als im Pik As, wo er schon am ersten Tag beklaut wurde. Seine Eltern hatten ihn, der mit drei Geschwistern in einem Zimmer aufgewachsen war, mit 18 auf die Straße gesetzt. Selbst wenn er eine Lehrstelle fände, würde er sie nicht annehmen, weil das in seiner Lage „sicher schief geht“.

Der heute 19-jährige Tobias aus Osdorf wurde schon mit acht Jahren von seiner drogenabhängigen Mutter auf die Straße gesetzt. Nach einer Odyssee durch die Heime kam er mit 18 zurück nach Hamburg und machte Platte vor C & A, bevor er beim Betteln durch einen Hinz & Kunzt-Verkäufer aufs Zeitungsverkaufen aufmerksam wurde. Für den unter Schlafstörungen leidenden Jungen wenigstens eine erste Perspektive.

Das Magazin schreibt von 250 jungen Menschen, die in Notunterkünften für Erwachsene leben. „Die Zahl der jungerwachsenen Wohnungslosen nimmt zu“, heißt es in einer E-Mail des Trägers „Fördern & Wohnen“, die der taz vorliegt. Seien im Dezember 2006 noch 186 18- bis 25-Jährige in Unterkünften gewesen, wären es Ende Juni 2007 schon 230 gewesen. Die Sozialbehörde spricht von aktuell 194 Fällen, die in öffentlichen Unterkünften sind, so dass sie nicht auf der Straße leben.

Doch für Karrenbauer ist das keine Lösung sondern sträflich. „Damit züchten wir Probleme heran. Die jungen Leute haben ganz andere Ansprüche als ein 40-jähriger Obdachloser“. Noch liefen sie wie normale Jugendliche herum und haben noch alle Zähne im Mund. „Aber in ein paar Jahren sieht man ihnen die Obdachlosigkeit auch an.“

Karrenberger sieht neben teuren Mieten die restriktive Hartz IV-Gesetzgebung als Ursache für den Anstieg. Seit einer Gesetzesverschärfung vom Februar 2007 müssen unter 25-Jährige bei ihren Eltern wohnen oder per Attest von Polizei, Ärzten oder Sozialarbeitern den Nachweis bringen, dass dies unerträglich wäre.

„Selbst Jugendliche, die vorher in öffentlicher Erziehung waren, werden jetzt erstmal an die Eltern verwiesen“, sagt Sozialarbeiterin Heike Lütkehus vom Wohnprojekt „Hude“. Zudem würden junge Erwachsene mit härteren Kürzungen bestraft als Erwachsene, wenn sie sich zweimal bei der Arge nicht melden und verlören auch auf diesem Weg das Geld für die Wohnung. Die jungen Leute seien mit der Bürokratie überfordert und bräuchten „Verselbstständigungshilfen“, sagt auch Fachreferent Stefan Nagel vom Diakonischen Werk, das dem Thema bereits eine Tagung widmete. Da viele auch einfach bei Kumpels übernachten, gingen Fachleute gar von einer Dunkelziffer von 1.500 jungen Wohnungslosen aus.

„Wir brauchen dringend mehr adäquate Schlafplätze, weil es für diese Altersgruppe nichts gibt“, sagt Lütkehus. Sie befürchtet eine Verschärfung der Lage, weil die Sozialbehörde eine Weisung an die Fachstellen für Wohnungslose in den Bezirken plane. Auch sie möchten die Jugendlichen zunächst zu den Eltern schicken.

„Eine solche Weisung ist nicht geplant“, sagt Behördensprecherin Eisenhut. Dennoch würden besagte Fachstellen die jungen Menschen jetzt in den Focus nehmen. „Es werden Wohngemeinschaften speziell für diese Altersgruppe eingerichtet“, sagt Eisenhut.