Es gibt kein egoistisches Gen

Unsere Existenz ist gleichberechtigt biologisch und kulturell, das eine dominiert nicht das andere, erklärten die Wissenschaftler Humberto Maturana und Ximena Dávila am Freitag bei einem Vortrag

VON CORD RIECHELMANN

Die Schlange vor dem Eingang zum Vortragssaal im Haus der Kulturen der Welt war am vergangenen Freitag lang, und die Leute standen dicht gedrängt auf der Treppe. Im Rahmen der diesjährigen transmediale war ein interaktiver Abendvortrag von Humberto Maturana und Ximena Dávila unter dem etwas holperigen Titel „Kooperation oder Gehorsamkeit: Co(i)nspiration als biologische Basis für die menschliche Existenz“ angekündigt.

Der Andrang verhieß aber erst mal Gutes. Deutete er doch an, dass Maturana nicht wie sein wichtigster deutscher Multiplikator, der Soziologe Niklas Luhmann, den Weg in die Abstellkammer wissenschaftlicher Theorien gegangen ist. Im Gegenteil: An diesem Abend schien trotz der gewöhnungsbedürftigen Vortragsweise von Ximena Dávila und Humberto Maturana das Interesse an ihrem Thema außerordentlich wach zu sein. Und das ist nicht nur bei dem wie jedes Jahr äußerst sympathischen Publikum der transmediale erstaunlich. Maturana und Dávila handelten nämlich von nichts Geringerem als einer Ontologie der Wirhaftigkeit der Wirklichkeit. Was bedeutet, dass unsere Seinsweise schon immer, also von Anfang an, vom ersten Atemzug sozusagen, gesellschaftlich organisiert ist und damit auf andere bezogen. Dávila und Maturana bezeichnen das als „unsere biologisch-kulturelle Existenz“.

Mit der durch den Bindestrich hergestellten Kopplung der Begriffe biologisch und kulturell bestreiten sie ebenso jede Dominanz des einen über das andere sowie auch jede geschichtliche Priorität etwa der biologischen Anlagen vor den kulturellen Ausformungen. Unsere Existenz oder Seinsweise lässt sich nur als eben biologisch-kulturell begreifen.

Interessant wird diese Position, wenn man sie mit ihren Gegnern in Biologie und Philosophie konfrontiert. In der Biologie sind es alle wie auch immer ausgearbeiteten Gen-deterministischen Konzepte, die sich als Verhaltenslehren um das Schlagwort vom „egoistischen Gen“ gruppieren und als Soziobiologie bekannt geworden sind. Der Kern aller soziobiologischen Theorien lässt sich als eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Brüderlichkeit – den Begriff so verstanden, wie ihn die Französische Revolution gebrauchte – beschreiben. Für die Soziobiologie verbirgt sich hinter jeder Brüderlichkeit nichts als Egoismus. Und dieser lässt sich rein rechnerisch in Differenzen unserer genetischen Grundausstattung, die unsere Individualität erst hervorbringe, ausdrücken.

Für Maturana und Dávila ist das schlicht Blödsinn, weil alles, was wir tun, sprachlich vermittelt ist und die Sprache von außen kommt, also platt gesagt, nicht in den Genen steht. Die sprachliche Vermittlung unserer Existenzweise machten die beiden dann in ihrer dialogischen Vortragsweise anschaulich, in der sie sich abwechselten, sich Fragen stellten oder sich in andere Seinsweisen, wie etwa die eines Kindes, imaginierten. Wir müssten lernen, wieder wie die Kinder zu werden, das heißt, wieder lernen wie die Kinder, Fragen zu stellen, ohne Antworten zu erwarten. Sozusagen zurückzukehren in das rhythmische Zeremoniell der immer gleichen Fragen des Kindes.

Das war gewöhnungsbedürftig. Denn so wie Dávila/Maturana diesen Ausgangspunkt ihres dialogischen Welt- und Realitätsentwurfs in Szene setzten, reichte ihre Performance an die Strenge des dahinterstehenden sozialphilosophischen Konzeptes nicht heran und kann sie wahrscheinlich auch nie erreichen. Es ist das alte Problem, dass man die in einem theoretischen Begriff aufgehobenen Realbewegungen nicht ohne Verluste in eine Vortragsbewegung übersetzen kann. Was in diesem Fall nicht schlimm war, weil der britische Künstler Matthew Fuller in seiner Einführung die Wegmarken von Maturanas Forschung und Denken benannt hatte.

Fuller legte knapp und präzise dar, wie Maturana in den Sechzigern über neurobiologische Studien an Fröschen zum Begriff der Autopoiesis gelangte, der die Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines lebendigen Systems, sei es ein Mensch oder ein anderes Säugetier, beschreibt. Autopoietische Systeme sind dadurch gekennzeichnet, „dass das Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation.“

Fuller hatte dann mit Niklas Luhmann und dem französischen Psychoanalytiker-Philosophen Félix Guattari auch die wichtigsten Adepten von Maturanas Autopoiesis-Begriff genannt, die in jeweils ganz unterschiedlicher Weise ihre eigenen Theorien damit erweiterten. Bei dem auch praktizierenden Therapeuten Guattari wird in der Zusammenarbeit mit dem Philosophen Gilles Deleuze daraus unter anderem ein Modell des Kindwerdens des Menschen. Wobei das Kindwerden einen unabschließbaren Prozess der Zuwendung zur Welt bezeichnet, der ohne Ziel bleibt.

Vor diesem Hintergrund verloren dann Dávila und Maturana alles Naive. Ximena Dávila arbeitet wie Guattari ebenfalls als Therapeutin. Sie ist spezialisiert auf Familien und Organisationen. Im Jahr 2000 hat sie mit Maturana in Santiago de Chile das Instituto Matríztico gegründet, an dem sie eine Ausbildungs- und Forschungspraxis entwickeln, die fachübergreifend Verbindungen biologischer Fragen mit solchen der Philosophie, Psychologie und Soziologie sucht. So war der Vortrag auch eine Einführung in ihre Arbeit.