Aphorismen am laufenden Meter, wegweisende Sterne am Himmel

Das Leben kann so unbegreiflich sein, fand der Kölner Taxifahrer Mehmet Günaydin. Das darf nicht sein! Und so schneiderte er sich selbst ein Vademecum voller Wegweisungen

VON ANNETTE BRÜGGEMANN

Es ist einer dieser hektischen Nachmittage, als ich zu einem jungen Mann ins Taxi springe, er trägt Lederjacke, Jeans und hat ein freundliches Gesicht. Die Bahn habe ich verpasst. Ich murmele die Adresse, er fährt los, während ich den Inhalt meiner Tasche sortiere, den ich eilig hineingeworfen habe. Alles ist da, erleichtert sehe ich aus dem Fenster.

Der Taxifahrer muss mich amüsiert beobachtet haben, denn er wirft plötzlich einen Satz in die Stille des Taxis: „Es gab eine Zeit, da warst du nichts. Es wird eine Zeit geben, da wirst du nicht da sein. Beides ist gleich. Für uns gibt’s nur das Jetzt. Seneca.“ – „Wie bitte?“ – „Jetzt ist das Einzige, was wir besitzen“, sagt er nur. Ich kontere: „Sind Sie Buddhist oder so was?“ Er lacht. „Nein. Mein Name ist Mehmet Günaydin.“ Nun muss auch ich lachen und sage: „Okay.“ Gebe ihm meine Hand und sage: „Mein Name ist Annette.“

Darf ich Sie etwas fragen?“ – „Mmmh …“ – „Warum fahren Sie nach Hahnwald? Da wohnen doch nur reiche Leute …“ – „Ich gucke mir dort eine Immobilie an“, flunkere ich und denke, der Mann verdient eine ehrliche Antwort. „Ich habe dort einen neuen Job angenommen – die Leitung eines Lesekreises.“ Jetzt grinst er und sagt: „Die Gelegenheiten sind wie Wolken, sie kommen und gehen. Also, sofort zuschlagen!“ – „Stimmt!“, erwidere ich, und er ergänzt: „Lernen Sie einen Beruf, der Ihnen Spaß macht, und Sie müssen keinen Tag in Ihrem Leben arbeiten.“ – „Ja, dann kommt einem die Arbeit nicht wie Arbeit vor.“ Wäre es nicht mitten am Tag, hätte ich das Gefühl, im Jim-Jarmusch-Film „Night on Earth“ zu sein.

„Herr Günaydin, woher haben Sie Ihre Lebensweisheiten?“, frage ich und staune nicht schlecht, als er aus dem Handschuhfach seines Taxis ein Büchlein zieht. Nachtblau ist es, mit goldenen Sternen darauf und einer schnörkeligen Schrift. Titel: „Zitate Sammlung“, darunter sein Name. „Sie haben ein Buch veröffentlicht mit Zitaten?“ – „Ja“, sagt er. „Prima. Und wie kam es dazu?“ – „Das ist ’ne lange Geschichte.“

Und dann erzählt mein Chauffeur von seiner Familie, seiner Frau und seinen drei Kindern. Geboren wurde er in Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste. Mit elf Jahren kam er nach Deutschland, sein Vater war Gastarbeiter bei Ford in Köln. Und auch wenn dieser sich wünscht, dass sein Sohn in seine Fußstapfen tritt – Mehmet Günaydin hat andere Pläne. Macht eine Lehre als Elektroinstallateur und schlägt sich mit den unterschiedlichsten Jobs durch. Ein Jahr lang arbeitet er bei Mercedes als Lagerarbeiter, ein halbes Jahr als Elektriker beim Kundendienst, zwei Jahre bei einer Glasisolationsfabrik, ein Jahr als selbstständiger Mietwagenfahrer. Schließlich der Tiefpunkt, eine Zeit, als er hochverschuldet war und sein privates Glück zu Bruch ging. „Alles war verloren und da habe ich gedacht: Bis jetzt hast du alles verpfuscht, die Zeit verrinnt, also tu was, jetzt!“

Mehmet Günaydin setzt sich hin und schreibt. Keine therapeutischen Gedichte, sondern Sätze, die für ihn eine Lebensweisheit enthalten und damit, wie er sagt, Allgemeingültigkeit und Neutralität besitzen: „Zum Beispiel: Verliere beim Fallen nicht den Mut und beim Aufsteigen nicht den Charakter.“ Sätze wie Waffen für die sprachlosen Momente des Alltags. Und als er mit seinem Latein am Ende ist, liest er rund 450 Bücher von Sokrates über Montaigne bis Kant, durchstöbert unzählige Buchläden und Bibliotheken. Und entschließt sich, seinen Lebenstraum in die Tat umzusetzen: selbstständiger Taxiunternehmer zu werden.

„Im Dialog mit den Fahrgästen sind dann weitere Sätze für meine Sammlung entstanden. So sagte mal ein Inder zu mir: ‚Jeder denkt, der Schlaue davor, der Dumme danach.‘ Das habe ich dann auch aufgeschrieben. Ich würde sagen, sechzig Prozent der Zitate im Buch habe ich selbst formuliert, der Rest stammt von Philosophen und Menschen, die mit mir Taxi gefahren sind.“

„Und wie kam es dazu, die Zitate zu veröffentlichen?“ – „Ich dachte: Wie kannst du anderen Menschen helfen, damit sie nicht dieselben Fehler machen wie du? Wie kannst du ihnen sagen: Lass dir nicht alles gefallen! Ich sage immer: Wie groß muss der Preis an die Ungerechtigkeit sein, damit die Gerechtigkeit siegt?“ Er habe zunächst an Freunde und Bekannte gedacht und dann an ein größeres Publikum. Dann habe er seine Zettel aus der Schublade geholt und eine Reihe von Verlagen angeschrieben, doch Interesse zeigte keiner. Mehmet Günaydin gab nicht klein bei, warum auch? Er findet: „Nichts ist stärker als eine Entscheidung, deren Zeit gekommen ist.“ So hat er den Druck selbst bezahlt und sein Buch bei Books on Demand herausgebracht.

„Die Zitate sind in jeder Lebenssituation anwendbar. Ein Beispiel: Ein Kollege von dir schnauzt dich an. Dann kannst du zurückschnauzen, oder du sagst einfach: ‚Hey, Kumpel, morgen ist der erste Tag deines Restlebens!‘ Die Kunst ist ja nicht, stark zu sein, sondern, die Kraft am richtigen Ort einzusetzen.“ – „Was sagen denn die Kollegen zu Ihrem Buch?“ – „Manche finden das gut, manche fragen, warum ich so was überhaupt veröffentliche. Da sag ich nur: Wer in die Fußstapfen des anderen tritt, wird nie eigene hinterlassen. Ich habe mir halt mein eigenes Gericht gekocht.“

Für Mehmet Günaydin sind die Zitate Halt und Orientierung zugleich. Sie haben ihm aus der Krise geholfen, sagt er, „wie wegweisende Sterne am Himmel“. Mit Zitaten beginnt er einen spontanen Gedanken oder lässt ihn damit enden. Sie umgeben den Menschen Mehmet Günaydin wie ein schützendes Textil, hinter dem er verschwindet. Ein Sprücheklopfer und überzeugend zugleich. Seine Selbstbeschreibung, „wie ein lebendiges Buch“ zu sein, trifft es am genauesten. Für die Länge der Taxifahrt hat er es geschafft, mich auf charmante Weise zu unterhalten, da sei ihm jeder didaktische Tonfall verziehen.

Kurz vorm Ziel verspricht Mehmet Günaydin mir noch, mir zum Abschied seine drei Lieblingszitate zu verraten. Und die rattert er runter wie nix: „ ‚Wir Menschen haben noch nicht mal einen Regenwurm erschaffen, aber dafür jede Menge Götter‘, oder: ‚Heiraten Sie. Wenn Sie eine glückliche Frau erwischen, werden Sie glücklich. Wenn Sie eine schlechte Frau erwischen, werden Sie Philosoph.‘ Unterschrift Sokrates, Philosoph, oder: ‚Manche Hähne denken, nur weil sie krähen, geht die Sonne auf.‘ Wie kann man mit so kurzen Sätzen so viel ausdrücken?“ – „In der Kürze liegt die Würze!“, sage ich lächelnd und kann mir eine letzte Frage nicht verkneifen: „Herr Günaydin, sind Sie eigentlich glücklich in Deutschland?“ – „Ja“, sagt er lachend, „aber der Ort ist gar nicht entscheidend. Da sage ich immer: Es gibt zwei Wege, um glücklich zu sein. Entweder Wünsche verringern oder das Unmögliche vermehren.“

ANNETTE BRÜGGEMANN, Jahrgang 1973, lebt als Autorin und Regisseurin in Köln Lektüre: Mehmet Günaydin: „Zitate Sammlung“. Books on Demand 2007, 9,80 Euro ISBN 978-3-8334-8189-5