Rückkehr voller Zorn

Nostalgische Gründe hat es nicht, dass Frank-Patrick Steckel wieder in Bremen Regie führt: Seine alte Wirkungslosigkeitsstätte nennt er die Stadt. Inszeniert hat der zornige alte Mann des Sprechtheaters Bertolt Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ – weil sie so grausam aktuell geblieben ist

VON ROBERT BEST
UND KRIS KUPKA

Bremer Theater, Hinterhof, vierter Stock, Probebühne. Im schwarzen T-Shirt sitzt Regisseur Frank-Patrick Steckel vor einer Reihe von Tapeziertischen und schwitzt. Ein Handtuch hängt um seinen Hals, eine Wasserflasche steht vor ihm, er hat – wie jeden Tag – zehn Stunden Probe hinter sich gebracht. Am 2. Februar ist Premiere. Steckel inszeniert Bertolt Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“. Seine Regiearbeiten haben deutsche Bühnengeschichte geschrieben, allein fünfmal erhielt er Einladungen zum Berliner Theatertreffen.

Es ist eine Rückkehr. In Bremen lebt Steckel seit über 25 Jahren nicht mehr. Damals, von 1978 bis 1981 war er Oberspielleiter am Theater, erschloss Spielräume in der Stadt, spielte als einer der ersten im alten Schlachthof an der Bürgerweide. Und forderte ein neues Schauspielhaus. Gebaut wurde es Jahre später, da hatte Steckel Bremen aus Enttäuschung über die Kulturpolitik schon samt Anhang verlassen, um einige Zeit später als Nachfolger Claus Peymanns Intendant am Bochumer Schauspielhaus zu werden. Bremen nennt Steckel „meine alte Wirkungslosigkeitsstätte“. Im Jahr 2008 ist er wieder in der Stadt. Per Zufall, nicht aus Nostalgie: Ursprünglich sollte Manfred Karge Brechts „Kaukasischen Kreidekreis“ inszenieren. Karge ist erkrankt, Steckel hat vier Wochen, um die „Johanna“ vorzubereiten, Pressetermine inklusive.

Steckel, stress- und projekterfahren, probt teils mit arbeitslosen Schauspielern. Die Bagis, so heißt an der Weser die gemeinsame Stelle von früherem Arbeits- und Sozialamt, hat sie mit Bildungsgutscheinen ausgestattet, der Beschäftigungsträger „Theaterlabor“ vermittelt. Mit ihnen arbeite er aber nicht wegen des Inhalts, sagt Steckel: „Das Stück übersteigt einfach das Volumen des Ensembles.“ Eine hilfreiche Kooperation für beide Seiten: Die Akteure „können wieder in ihrem Beruf arbeiten, verdienen was, sammeln Erfahrung. Eine Dauerlösung kann so was aber nicht sein.“ Unter dem Eindruck von Arbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise ging auch Brecht zu Werke, er schrieb die „heilige Johanna“ 1929-32, in seiner produktivsten Phase. Die Titelfigur, eine Heilsarmistin, steigt in die „Tiefe der Schlachthöfe“ hinab, wo sie in Erfahrung bringen möchte, „wer an allem schuld ist“, an Elend, Armut, Würdelosigkeit.

Brecht lässt Johanna auf den Bodensatz des Kapitalismus treffen: Spekulanten, Diebe, Polizisten, Arbeiter, die ihre nächsten Freunde für ein paar warme Mahlzeiten oder einen guten Anzug verraten. Eine harte Schule der Kriminal- und Wirtschaftsrealitäten. Der Großfabrikant Mauler ist von Johannas naiver Suche gerührt. Nicht er sei „der Schuldige“, wenn er die Werkstore für 7000 Arbeiter schließt, das liege an der „Niedertracht, Unehrlichkeit der Arbeiter selbst.“ Doch Johanna erliegt nur kurz Maulers Verführungen – und zieht ihre eigenen Konsequenzen.

Ebenso hart umkämpft und reich an Konflikten wie die Beziehung Johannas zu Mauler gestaltete sich der Weg zur Uraufführung des Stücks. Brecht, der nach dem 2.Weltkrieg in Ost-Berlin das Berliner Ensemble gründete und bis zu seinem Tod 1956 mit Helene Weigel leitete, durfte es zu seinen Lebzeiten nicht aufführen. Die an einem „sozialistischen Realismus“ orientierte SED – in keinem Ankündigungstext zum Stück wird es verschwiegen – lehnte es bis 1968 als „zu revolutionär“ ab.

Die „Johanna“ sei „kein fertiges Stück“, sagt Steckel: Die Fabel irrlichtere, dramaturgische Widersprüchlichkeiten fänden sich zuhauf. Doch aktuell, das sei sie. Und zwar solange wie „der metaphysische Anteil der sozialen Existenz so niedrig ist, dass man nicht erkennt, wo die Sonne scheint.“ Freuen könne einen eine solche Aktualität nicht, „dafür reicht kein noch so großes Geltungsbedürfnis“.

Ist es aber nicht paradox, dass agitatorische Stücke wie die „Johanna“ vor fast rein bürgerlichem Publikum zur Aufführung kommen? Nein, die 68er-Träume, die Arbeitermassen ins Theater zu holen, „sind nun mal gegenstandslos geworden“. Umso mehr, fordert Steckel, „soll sich das heutige Publikum äußern, was es eigentlich vom Theater will.“ Denn über den Weg traut er ihm nur noch „bedingt: Das ging höchstens solange, wie der Sozialstaat intakt war.“ Heute verhalte sich „das bürgerliche Projekt wie ein Abbruchunternehmen des Sozialen.“ Theater hat immer, die Funktion, gesellschaftlich zu verändern, egal wie sehr es sich ökonomischen Forderungen beugt, sagt Steckel. Es sei einfach „genuin kommerzfeindlich: Vernünftige Politiker wussten immer schon, dass sie sich mit guten Theaterleuten Läuse in den Pelz setzen.“ In Bochum habe ihm zu seinem Glück ein Kulturdezernent den Rücken freigehalten. Steckel erzählt vom Bremer „Theatertod“ 1981, von Protesten aktiver und ehemaliger Theaterangehöriger gegen senatorische Kürzungspläne, als Ensemble auf der Bühne oder vorm Rathaus, „eine einzige Schreierei.“

Kurz zuvor war Steckels Inszenierung von Hans Henny Jahnns „Krönung Richards III“ im Schlachthof noch ein großer Erfolg, der damalige Kultursenator Horst-Werner Franke gratulierte. Der SPD-Politiker versicherte ihm „in die Hand“, so Steckel, dass der improvisierte Spielort bewahrt würde. Bald darauf rückten die Abrissbagger an, um 4 Uhr morgens, und große Teile des Gründerzeitbaus fielen zu Boden. Turm und Kesselhalle blieben am Ende stehen, gerettet nur durch die private Initiative eines Bauherrn. Heute sind sie ein Kulturzentrum.

Steckel ist Rentner. „Ich muss nichts mehr machen“, sagt er, doch jenseits dessen, das spürt man, liegt eine Menge Lust an der Arbeit und Wut über den Kulturbetrieb. Über den „Klassikhorizont“ wagten sich die Bühnen heute nicht hinaus - mangels Mut, nicht nur aufs Geld zu schauen. Ernst Barlach, Marieluise Fleißer, Else Lasker-Schüler - eine Menge „hoch spannender Dramatiker“ blieben ungespielt. Die Theater wühlten nur noch in den „Trümmerstücken des bürgerlichen Trauerspiels“, Roland Schimmelpfennig und Moritz Rinke als Gegenwartsautoren seien die besten Beispiele. Das Sprechtheater wandele sich wie bei Jon Fosse zum Schweigetheater; schlimmstenfalls würde, wie in Comedy-Sendungen, die „Unterschichtensau rausgelassen, damit das bürgerliche Publikum was zum Gruseln hat.“ Nur mehr die Konsequenzen eines Tuns würden aufgezeigt, nicht seine Mechanismen. Akteure wirkten oft farblos, im schlechtesten Sinne „natürlich“, ungearbeitet. Steckel schlägt Auswege vor aus der diagnostizierten Krise: künstlerische, ja künstliche Zugriffe, stilisierte Darstellungen in Bild und Spiel. Er nennt das klassische asiatische Theater mit Masken und Nô-Ästhetik, die „formalen Ellenbogenhiebe Heiner Müllers oder Brechts.“

Auftritt durch die Seitentür die Dramaturgie-Assistentin, reicht dem Regisseur ein Billet für den heutigen Abend: Schillers „Wilhelm Tell“. Steckel ist neugierig. Obwohl ihm der Drang, die Weimarer Klassik auf den Spielplan zu setzen, fremd ist. Goethe und Schiller seien politisch unbedarft gewesen, „unauthentisch“ ihre Szenarien, von falschen Voraussetzungen ausgehend ihre Stücke. Doch wie die jungen Kollegen arbeiten, das interessiert Frank-Patrick Steckel auch nach zehn Stunden Arbeit. Und vor den nächsten zehn.

Premiere 2. Februar, 19.30 Uhr. Theater am Goetheplatz, Großes Haus, Bremen. Karten: ☎ (04 21) 36 53 333. Weitere Termine 8./10./14./16. Feb, 4./7./13./19. März; 3./16./23. Apr.