Prähistorisches Relikt

Der Homburger Kallmuth in Franken ist bislang jedem Winzer zur Lebensaufgabe geworden. Der Berg hat seine Eigenarten über Generationen und Stilrichtungen hinweg in allen Weinen durchgesetzt

Was alle Weine eint, ist ihr feiner, subtiler Duft von Kräutern und Feuerstein

VON STEPHAN REINHARDT

Auch wenn der Mensch großen Einfluss auf die Eigenschaften eines Weins nimmt: Es gibt Weinberge, die setzen ihre Eigenarten über Generationen von Winzern und Stilrichtungen hinweg in allen in dieser Zeit entstandenen Weinen durch. Der sich zwischen Homburg und Lengfurt am bayerischen Untermain aufbauende Homburger Kallmuth ist so ein Weinberg, so ein Wein: eigenwillig und rätselhaft und zugleich substanziell und einzigartig.

Die im Jahre 1102 erstmals urkundlich erwähnte, wahrscheinlich aber bereits im 8. Jahrhundert angelegte und 1981 unter Denkmalschutz gestellte Terrassenlage am linken Mainufer befindet sich seit 1872 im Alleinbesitz des Fürstenhauses Löwenstein (seit 1957 dem Rosenberg’schen, davor dem Freudenberg’schen Zweig). Dieses unterhält in Kreuzwertheim wie auch in Hallgarten (Rheingau) Weingüter. Beide wurden bis zur letzten Lese von Robert Haller, einem Schwaben, geleitet und bewirtschaftet. Inzwischen ist er zum Bürgerspital nach Würzburg gewechselt, was dem Kallmuth eine Träne abverlangen wird, aber seine Größe nicht schmälert.

Jedem Winzer ist er bislang zur Lebensaufgabe geworden. Nicht ihn zu bezwingen ist die Aufgabe, sondern ihm zu dienen – sagen die, die ihm dienten. Wer falsches Pathos vermutet, sollte sich an den Fuß des Kallmuths begeben und einen seiner 18 Treppenläufe hinauf- und hinunterlaufen. Oder einfach einen Kallmuth trinken. Das ist jene aus zusammengelesenen und miteinander vergorenen Silvaner- und Riesling-Trauben erzeugte Reminiszenz an den ganz alten Callmuth, der immer ein Gemischter Satz (unter anderem mit Traminer und Elbling) gewesen war.

Die nach Westen gerichtete Lage Kallmuth ist eine majestätische Erscheinung. Sie versagt sich der Eingliederung ins liebliche Hügelland des Maintals auf herbe, schroffe Art. Ein heroischer Es-Dur-Akkord inmitten eines Pastoralen-Idylls in F-Dur! Ein trotziges, stolzes Überbleibsel einer 250 Millionen Jahre zurückliegenden Prähistorie. Die Haupttribüne des Mesozoikums! Von hier aus ließ sich der Verlauf der erdgeschichtlichen Trias, von wem auch immer, aus der ersten Reihe verfolgen.

Etwa hundertfünfzig, durch insgesamt zwölf Kilometer lange, zwei bis fünf Meter hohe rote Sandsteinmauern gestützte Terrassen türmen sich auf einer eine Konkave beschreibenden Linie von etwa tausend Meter Länge vom Mainufer über sieben bis neun Stockwerke nach oben. Eine jede von ihnen mit eigener Geschichte, besonderen Eigenschaften (insbesondere hinsichtlich des Bodens und des Rebenalters), anders schmeckenden Trauben, unterschiedlichen Weinen. Mehr als zwanzig Gebinde – viel Edelstahl, aber auch Holz – hält das Weingut daher für den Kallmuth bereit: Ein Terroir, zwei Dutzend Weine – das erhöht die Spielmöglichkeiten.

Die Terrassen, im unteren Bereich reiner Buntsandstein, oben bereits vom anstehenden Muschelkalk überlagert oder mit dessen Hangschutt vermischt, bieten eine Gesamtrebfläche von rund elf Hektar. Nur achteinhalb sind zurzeit bestockt, die meisten Flächen mit Silvaner (6 Hektar), der Rest, im hohlspiegelförmigen Zentrum der Anlage, mit Riesling (2 Hektar) und im obersten Bereich mit Rieslaner (0,5 Hektar).

Wo sich Brachen befinden, fallen gerade die alten Stützmauern zusammen oder werden für Millionen Euro erneuert. Von Wirtschaftlichkeit spricht hier niemand. Dafür umso mehr von kulturhistorischer Verantwortung. Und von Passion. Ohne sie wäre der Berg ein Trümmerhaufen. Und die Welt um einen einzigartigen Wein ärmer.

Seit je schon wird das unverwechselbare, honigsüße, nussartige und kräuterwürzige Aroma des Kallmuths ebenso gerühmt wie seine feurige Kraft. Bis heute fallen die Kallmuth-Weine aufgrund ihres eigenwilligen Charakters, ihrer ganz unvergleichlichen Art auf. Nicht jeder Verkoster ist auf Anhieb begeistert – weil der Kallmuth keine Auf-Anhieb-Weine hervorbringt.

Er ist vielmehr ein nur den Eigenschaften seiner Herkunft verpflichteter Purist, der seinen ganzen Reichtum erst nach Jahren der Reife so richtig offenbart. Statt mit opulenten, reifen Fruchtaromen zeigt er sich im ersten Jahr nach der Lese kompakt, aber zugeknöpft. Erst im zweiten Jahr deutet er mit feinen Fruchtaromen, vor allem aber kräuterwürzigen und mineralischen Nuancen seinen edlen, sich nunmehr langsam entfaltenden Charakter an.

Feuerstein! Wenn es etwas gibt, was alle Kallmuth-Weine vom Kabinett bis zum Großen Gewächs eint, dann ist es ihr feiner, subtiler Duft von Kräutern und Feuerstein. Letzterer schlägt sogar am Gaumen noch Funken. Er verleiht dem stoffigen Riesling eine faszinierende Eleganz und Feinheit, während er dem fleischigen Silvaner einen mineralischen Kern einpflanzt.

Wer glaubt, das Große Gewächs vom Kallmuth müsse eine bessere, kräftigere Spätlese sein, sieht sich getäuscht. Gegenüber der gelbgoldenen, fruchtigen Homburger Kallmuth Silvaner Spätlese trocken erscheint die in der Jugend zunächst blassfarbene Kallmuth Asphodill Silvaner Spätlese trocken zunächst schlank. In Wirklichkeit aber ist sie nur subtiler und entwickelt sich erst im Mund wie insbesondere im lang anhaltenden Nachklang zu einem eindrucksvollen Silvaner-Konzentrat.

Doch die Kallmuth-Elixiere sind nicht wie anderswo dick und mächtig, sondern elegant, reich an Finesse, ausgewogen – animierend. Keine Weine für Verkostungswettbewerbe, sondern Essensbegleiter.

Die Kallmuth Coronilla Riesling Spätlese trocken etwa ist einer der elegantesten und feinsten trockenen Rieslinge des Landes. Feinwürzig und blumig im intensiven, brillant klaren und dezent rauchigen Duft; schlank, feinnervig, und überaus mineralisch im trotz seiner ausdrucksvollen Coda animierenden Nachklang.

Diese vermeintliche Schwerelosigkeit ist durchaus ein Wunder, mindestens aber ein Rätsel, wenn man bedenkt, wo dieser Wein wächst – in der Hölle!

Bedingt durch die Licht, Wärme und Feuchtigkeit regulierende Nähe zum Main, die dem Flussverlauf angepasste konkave Form des Hangs, der sich selbst vor Nord- und Ostwinden schützt, seine Ausrichtung nach Westen sowie die als Wärmespeicher funktionierenden Terrassen aus trocken gemauertem roten Buntsandsteinen, ergibt sich im Kallmuth ein submediterranes Klima.

Im Innern des Hohlspiegels, also dort, wo Riesling steht, können im Hochsommer Temperaturen von 50 bis 60 Grad Celsius erreicht werden. Regen fällt eher selten, und wenn, dann zur falschen Zeit, im Herbst, wenn die ausgedünnten, dünnhäutigen Trauben besonders anfällig für Fäulnis sind. Dann straft er diejenigen, die eigentlich gut gearbeitet haben. „In manchen Jahren“, erinnert sich Haller – und denkt an 1999, 2003 und 2005 –, „schenkt einem der Kallmuth alles; in anderen mussten wir kämpfen und streng verlesen, um die Qualität zu halten.“

Bewässert wird trotz der kargen Böden und extremen Trockenheit im Sommer nicht. Irgendwo im Innern muss der Kallmuth Wasservorräte haben, sonst würde in diesem Glutofen selbst die widerstandsfähigste Weinrebe zusammenklappen.

Überhaupt ist nicht nur die Temperatur südländisch, sondern auch Fauna und Flora sind es. So wachsen im Kallmuth nicht nur wilde, duftige Kräuter wie beispielsweise in der Provençe, sondern auch wärmeliebende Lilien- und Orchideenarten, die es nördlich der Alpen eigentlich gar nicht gibt, unter anderem die Graslilie Asphodill und die Coronilla.

Für rare Tagfalter und Schmetterlinge wie den Himmelblauen Bläuling oder Vögel wie die Zippammer reisen sogar Zoologen zum Kallmuth. Indes findet man diese Besonderheiten vor allem in den oberen zwei Dritteln des Kallmuths, also in jenem Teil, der nie mit Reben kultiviert wurde und heute unter Naturschutz steht.

Dieser Teil steht auf reinem Muschelkalk. Die Grenze vom Buntsandstein zum Muschelkalk könnt schärfer nicht formuliert werden: Sie verläuft genau dort, wo der obere, parallel zum Hang verlaufende Weg den kultivierten Teil vom natürlichen abschneidet. Oberhalb des oberen Kallmuth-Weges also beginnt das Reich des Muschelkalks, der das geologische Ausgangsmaterial des sogenannten Maindreiecks bildet. Somit ist der Kallmuth-Wein nicht nur in geschmacklicher Hinsicht, sondern auch geologisch der Höhepunkt des Buntsandsteinweins vom Mainviereck.

Weinempfehlung: 2006 Kallmuth Spätlese trocken, Weingut Fürst Löwenstein, Rathausgasse 5, 97892 Kreuzwertheim, Tel. (0 93 42) 9 23 50, Fax (0 93 42) 92 35 50