„Gewisse Ungenauigkeiten nehme ich in Kauf“

Der Schulsenator steht derzeit vor allem bei LehrerInnen von Grundschulen in der Kritik. Im taz-Interview verteidigt Jürgen Zöllner deren knappe Ausstattung mit LehrerInnen und ErzieherInnen, lobt ein bisschen die Gemeinschaftsschule und sagt schließlich das Ende der Hauptschule voraus

JÜRGEN ZÖLLNER, geboren 1945, ist seit November 2006 Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin. Der Direktimport aus Rheinland-Pfalz leitete zuvor 15 Jahre lang das dortige Ministerium für Wissenschaft und Weiterbildung, seit 1994 auch Bildung. In Mainz studierte er Medizin und lehrte als Professor für Gentechnologie. Zöllner, seit 1972 Mitglied der SPD, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. FOTO: AMÉLIE LOSIER

INTERVIEW ANNA LEHMANN
UND CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Zöllner, wir haben leider nicht viel Zeit, wir müssen uns wahnsinnig beeilen.

Jürgen Zöllner: Warum denn?

Es ist schon halb vier. Und wir haben Kinder in einer Ihrer famosen Ganztagsschulen. Da ist bald Schulschluss.

Trotzdem, in der Ruhe liegt die Kraft. Wenn Sie das späte Modul gebucht hätten, hätten Sie noch genügend Zeit.

Sie haben gut reden. Jeden Tag eine andere Schlusszeit, ein einziges Gerenne. Jede Ganztagsgrundschule ist anders organisiert.

So ist das bundesweit. Unter dem Strich ist die Vielfalt der Angebote und die größere Eigenverantwortung der Schulen gut für Schülerinnen und Schüler. Deshalb gibt es Ganztagsschule als offene Ganztagsschule mit Nachmittagsangeboten und als gebundene, also verpflichtend jeden Tag bis zu einer bestimmten Uhrzeit.

Sie haben jüngst geprahlt, dass Berliner Ganztagsschulen das beste Angebot in ganz Deutschland hätten. Wie kommen Sie eigentlich dazu – das Modell funktioniert doch gar nicht richtig?

Weil es in allen offiziellen Dokumentationen so steht: Berlin hat die meisten Ganztagsschulen – im Grundschulbereich. Fast alle Eltern der Stadt haben die Möglichkeit, ihre Kinder ganztags betreuen zu lassen.

Warum geben dann gerade sechs hervorragende Schulen ihre Ganztagslizenz zurück?

Ich weiß nur von einer mit Schulkonferenzbeschluss, dass sie vom gebundenen in den offenen Ganztagsbetrieb wechseln wollen. Diese und weitere sind aber im Gespräch mit meiner Verwaltung. Das liegt sicher daran, dass man bei der Einführung in Berlin einen bestimmten Weg gewählt hat: lieber ein flächendeckendes System unter guten, aber nicht optimalen Bedingungen etablieren – als optimale Bedingungen für die einzelne Schule zu schaffen und dafür insgesamt weniger Ganztagsschulen.

War das richtig?

Ich denke, ja. Denn wir bauen die Startposition ja weiter aus, etwa an den Europaschulen. Aber übersehen Sie die Widerstände nicht. Als ich vor vielen Jahren die verlässliche Halbtagsgrundschule in Rheinland-Pfalz eingeführt habe – das hieß: eine gesicherte Betreuungszeit bis ein Uhr mittags –, da hat es Aufstände gegeben.

Weil es so unperfekt war – wie jetzt in Berlin?

Nein, ganz anders. Man hat mir vorgeworfen, ich nähme den Eltern ihre Kinder weg. Inzwischen hat sich die Meinung ja völlig gewandelt. Was Sie so heftig kritisieren, ist also in Wahrheit eine kleine Revolution. Mittelfristig wird sich ganz Deutschland die Berliner Verhältnisse zum Vorbild nehmen und ein über den ganzen Tag verteiltes Lehrangebot entwickeln.

Noch mal: Sind es gute Bedingungen, wenn reihenweise Ganztagsschulen sagen: „Das Personal reicht nicht, wir machen nicht mehr mit“?

Das nehme ich im Einzelfall ernst. Aber wir haben über alle Schulen gute Bedingungen. Es ist ein Wert für sich, dass in Berlin nicht nur Leute Ganztagsschulen vorfinden, die sich für 1.000 Euro monatlich ein Internat leisten können. Hier kann praktisch jeder seine Kinder ganztägig in der Schule erziehen lassen.

Ist es richtig, dass Sie 2008 die Zahl der Erzieher für die einzelnen Klassen in den Ganztagsschulen reduzieren wollen?

Das ist eine Fehlinformation.

Es ist also falsch, dass Sie diese Planungen gestoppt haben?

Einzelne Verwaltungsabläufe in meinem Haus sind völlig uninteressant. Letzten Endes zählt die Positionierung des politisch Verantwortlichen. Und ich sage Ihnen ohne Wenn und Aber, dass die Ausstattung der Ganztagsschulen mit Erzieherinnen nicht gekürzt wird.

Experten sagen, eine echte Ganztagsschule brauche 30 Prozent mehr Personal als eine Halbtagsschule. Werden Sie den Schulen, die den ganzen Tag Schule machen, dieses zusätzliche Personal geben?

Ich lasse mich von niemandem auf irgendeine Prozentzahl festlegen. Aber ich sehe mir im Einzelnen an, ob die Bedingungen verantwortbar sind.

Die 600 Erzieher, die die Ganztagsschulen für einen ordentlichen Betrieb fordern, sind also zu teuer?

Die öffentlichen Anstrengungen sind bereits enorm: Der Haushalt ist mit gewaltigen Zuwächsen für den Schulbereich beschlossen worden, er ist um 2 Prozent stärker gestiegen als der Landeshaushalt. Bei 2 Prozent weniger Schülern.

Im Schuljahr 2008/09 sollen alle Grundschulen in der sogenannten flexiblen Schulanfangsphase das jahrgangsübergreifende Lernen in den ersten beiden Klassen einführen. Nun wehren sich Teile der Eltern und Lehrer dagegen. Werden Sie das Projekt überdenken?

Das jahrgangsübergreifende Lernen am Schulanfang ist ein Fortschritt, es sollte flächendeckend umgesetzt werden. Die Organisation muss natürlich so sein, dass es gut funktionieren kann.

Ist der flexible Schulanfang denn Ihr Ziel?

Es ist unbestritten, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit von Kindern gerade am Schulanfang unterschiedlich schnell ist. Also ist es sinnvoll, das flexibel zu gestalten. Das Lernen in jahrgangsgemischten Gruppen, verbunden mit individueller Förderung, ist sicher ein zukunftsträchtiges Instrument. Ich setze mich daher mit den Sorgen von Schulen sehr ernsthaft auseinander.

Das heißt, Sie werden entweder mehr Personal organisieren? Oder müssen nur die Schulen die Schulanfangsphase einführen, die das wollen?

Sie suggerieren damit, dass die Schulen nicht die nötige Ausstattung haben.

Genau das tun wir. Ursprünglich sollten zwei Lehrer oder ein Lehrer und ein Erzieher pro Lerngruppe unterrichten. Eine solche Doppelsteckung wurde nicht erreicht.

Wenn Berlin damals eine Doppelsteckung hätte haben wollen, wäre es so beschlossen worden. Wir schöpfen die Ausstattungsmöglichkeiten vollständig aus.

Aber es wurden doch feste Schlüssel beschlossen. So soll jede Schulanfangsgruppe fünf Förderstunden bekommen. Das heißt, für die individuelle Förderung kommt fünf Stunden ein zweiter, besonders ausgebildeter Lehrer in den Unterricht.

Wo das beschlossen worden ist, das müssen Sie mir zeigen.

Es steht in den einschlägigen Verordnungen.

Das kann nicht sein, denn wir schöpfen die Ausstattungsmöglichkeiten vollständig aus.

Es gibt Vorschriften, die besagen, dass fünf sonderpädagogische Stunden in den Schulanfang sollen. Wieso setzen Sie das nicht um?

Ich hole Ihnen die Zuweisungsrichtlinien, und Sie können mir dann zeigen, welche davon nicht eingehalten werden.

Wollen Sie damit sagen, dass Sie gar nicht wissen, ob die fünf vorgesehenen Förderstunden in den Klassen tatsächlich ankommen? Sie kennen also die Bedingungen für Ihr bahnbrechendes Lernmodell gar nicht?

Ich kenne nicht die gesamten Richtlinien für die Personalzumessungen, das können Sie ruhig schreiben. Es hat mich erschlagen, als ich es das erste Mal sah. Insgesamt zehn Tabellen mit zirka zweitausend verschiedenen Faktoren.

Sie reden sich heraus. Sie wissen doch ganz genau, dass der zweite Lehrer beim jahrgangsübergreifenden Lernen extrem wichtig ist. Wieso ordnen Sie nicht einfach an, dass jede Lerngruppe die Förderstunden bekommt?

Ich weiß, dass ich das nicht als Teilproblem, sondern nur als Gesamtpaket lösen kann.

Was heißt das denn?

Es gibt ein Grundproblem bei der Lehrerzuweisung: Berlin orientiert die Personalberechnung für die Klassen allein an der Zahl der Schülerinnen und Schüler. Wenn sich keine normal großen Klassen einrichten lassen, kann es aus rechnerischen Gründen passieren, dass die Ausstattung knapp ist. Da muss man sich angucken, ob das aufgrund der Faktoren und der realen Schülerzahlen tatsächlich ein Problem sein muss und was man dagegen machen kann. Das schaue ich mir im Augenblick an.

Pardon, aber das versteht doch niemand!

Ja eben. Deswegen habe ich dieses komplizierte Zuweisungssystem auf den Prüfstand gestellt.

Und es muss Eltern auch gar nicht interessieren. Die wollen genug Lehrer für guten Unterricht. Punkt.

Sie haben recht, es ist nicht Sache der Eltern, auf welche Art und Weise das zustande kommt.

Starten Sie also 2008 eine Transparenzoffensive?

Diese Offensive habe ich schon nach zwei Wochen im Amt im Dezember 2006 gestartet. Es ist mein Ziel, das alles leichter verständlich, effizienter und weniger bürokratisch zu gestalten.

Aha, die Schulen wissen dann also nicht erst drei Monate nach Schulbeginn, sondern schon im Mai, welche Lehrer und Schüler sie bekommen?

Darum geht es. Und ich bin bereit, dafür gewisse Ungenauigkeiten in Kauf zu nehmen. Ich will Planungssicherheit bei der Lehrerausstattung.

Herr Zöllner, wenn man alle Detailprobleme addiert und mit Ihrem Faktor Berlin multipliziert, kommen wir zu dem Ergebnis: Es herrscht gar kein Mangel an Lehrern!

Was würden Sie denn machen, wenn Sie wissen, dass in Ihrem Verantwortungsbereich ein Vielfaches an Ressourcen im Vergleich zu allen anderen Bundesländern aufgewendet wird? Dann würden auch Sie nicht von Mangel sprechen. Ich weiß, dass wir für Bildung mehr Mittel brauchen. Aber erst einmal muss man die vorhandenen verantwortungsvoll einsetzen.

Sie haben zusätzlich einen sogenannten Vertretungspool eingeführt, der leider nicht ausreicht. Werden Sie ihn 2008 ausbauen?

Die Schulpolitik ist das bestimmende Thema des Senators für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Nicht weil Jürgen Zöllner es gern so hätte, sondern weil das 2004 erlassene Schulgesetz einige Umsetzungsschwierigkeiten bereitet: So sollen im nächsten Schuljahr alle 396 Grundschulen die 1. und 2. Klassen jahrgangsübergreifend unterrichten. Doch bisher ist nicht einmal die Hälfte daran interessiert. In den 64 gebundenen Ganztagsschulen werden die Erzieher knapp, der Ganztagsschulverband schlägt Alarm, weil die ersten Schulen ihre Lizenz zurückgeben. Gemeinschaftsschulen sollen irgendwann alle Schulformen von der Grundschule bis zum Gymnasium vereinen. Doch unter den elf Schulverbünden, die 2008 starten, ist bisher kein einziges Gymnasium. In diesem Jahr will Zöllner das engmaschige Regelnetzwerk etwas lockern und Schulen entlasten: So müssen Notensprünge von mehr als einer Note in der Grundschule nicht mehr schriftlich begründet werden. Beim Mittleren Schulabschluss wird es nur noch einen Korrektor geben. Klassenarbeiten müssen nicht mehr in der Schule aufbewahrt werden, Thema und Noten auch nicht mehr zusätzlich in einer Klassenliste notiert werden. Welche Fördermaßnahmen für Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche ergriffen werden, entscheidet künftig allein die Schulleiterin und nicht wie bisher die Schulaufsicht. Beim Wechsel eines Wahlpflichtkurses bis zur Klasse 10 müssen Direktoren nur noch die Lehrer konsultieren. ALE

Jedenfalls nicht das Budget, also die 3 Prozent Vertretungsmittel, die die Schulen frei einsetzen können. Damit kommt man sicher bei einem Unterrichtsausfall von deutlich unter 3 Prozent in den letzten Jahren hin. Es ist wichtig, mit diesem Instrumentarium gut umzugehen. Wir werden den Schulen aber mehr Freiheiten geben, eigene Vertretungspools aufzubauen.

Ist es richtig, dass Sie auf die zentrale Vertretungsliste gar nicht gucken können, sondern nur die Schulen?

Obwohl ich sehr viel mit dem Computer umgehe, habe ich mir diese Liste noch nicht angeschaut. Aber meine Verwaltung nimmt täglich Einblick.

Kennen Sie Gundel Schümer?

Nein, leider nicht.

Kennen Sie Jürgen Baumert?

Ja, sicher.

Kennen Sie Jutta Allmendinger?

Selbstverständlich.

Das sind Wissenschaftler, die nachweisen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der frühen Auslese der Schüler auf drei Schulformen und den im OECD-Vergleich extrem auseinanderklaffenden Leistungen. Warum streiten Sie und andere Kultusminister diesen Zusammenhang ab?

Das streiten die Kultusminister nicht per se ab. Ich denke, dass ganz ohne Zweifel Chancengleichheit in einem integrierten Modell besser verwirklicht wird.

Die Gemeinschaftsschule ist also der richtige Weg?

Die Gemeinschaftsschule ist sicher ein richtiger und zielführender Ansatz zur Weiterentwicklung der Schule. Das heißt nicht, dass es ausgeschlossen ist, auch in einem gegliederten Schulsystem Chancengleichheit zu realisieren. Man muss nur die Durchlässigkeit verwirklichen.

Sie wollen die Gemeinschaftsschule also gar nicht flächendeckend einführen?

Das habe ich nicht gesagt. Die Beschlusslage lautet: Es ist ein Pilotprojekt. Ich halte es aber für notwendig, dass wir zu einer konsistenteren und übersichtlicheren Schullandschaft kommen.

Der Max-Planck-Chef Baumert hat nachgewiesen, dass 60 Prozent der Hauptschulen in dieser Stadt kaputt sind – weil dort unzumutbare Lernmilieus herrschen. Wie lange wollen Sie diese Gettoschulen noch aufrechterhalten?

Wenn wir der Verfassung gerecht werden wollen, müssen wir diesen Schülern ein pädagogisch eigenständiges Angebot machen. Man wird das Problem aber nicht nur dadurch lösen, indem man einfach Haupt- und Realschulen zusammenlegt.

Haben die Hauptschulen mittelfristig eine Chance in Berlin?

Die Hauptschule wird als eigene Schulform sicher nicht auf Dauer existieren.