Der verwegene Ernst

GESELLSCHAFT Mit dem „Futurzwei Zukunftsalmanach“ treibt Harald Welzer den ökologischen Denkwechsel voran. Es geht nicht um das, was passieren müsste, sondern um das, was passiert

Harald Welzer ist der Mann, den die klassischen Wachstumskritiker und auch die grünen Wachstumsbeschwörer gefressen haben. Weil ihm der Stallgeruch fehlt. Weil der gelernte Sozialpsychologe ihnen die Show stiehlt und die verdienstvolle Ökobewegung als „Besorgnisindustrie“ abkanzelt, die im System der Erhaltung des Systems die Rolle des Mahners spielt. Faktisch ist er selbst auch ein Wachstumskritiker, aber das ist ein lebloser Begriff, weil er in einem alten Denken feststeckt, dessen Kern eben in Kritik besteht – und nicht in Handlung.

Die Idee der von Welzer geleiteten Stiftung Futurzwei ist es, den Paradigmenwechsel von Vergangenheits- zu Zukunftsbewältigung sichtbar zu machen, indem man Geschichte in der Zeitform der erlebten Zukunft (im Futur zwei) erzählt. Also sagen will, was wir getan haben werden, um die Klima-, Ressourcen-, Kriegs- und Flüchtlingskrisen des 21. Jahrhunderts nicht nur zu beschwören, sondern um sie zu meistern.

Der Schwerpunkt des neuen „Futurzwei Zukunftsalmanachs“ sind die „Geschichten des Gelingens“; Menschen, Projekte, Unternehmen, die zukunftsfähig sorgsam mit Material, Konsum und Energie umgehen und dadurch die globale Ungerechtigkeit reduzieren. Die These lautet, dass in diesem Moment in einem politischen Vakuum eine soziale Bewegung sichtbar wird, deren neue Kraft im praktizierten anderen Wirtschaften liegt.

Das politische Kernstück des Buches ist ein 25-seitiger Essay von Welzer, mit dessen Lektüre sich Menschen geistig ganz nach vorn beamen können, die sich bisher eher nicht für das Thema interessieren.

Für Welzer wurde mit der Klimakonferenz von Warschau 2013 „der Klimawandel von der Weltordnung genommen“. Diese Ansicht ist selbstredend umstritten, aber ihr unschlagbarer Vorteil ist, dass sie einem nicht den bewährten Ausweg der Lethargie des Vielleicht-passiert-ja-doch-was lässt. Die Botschaft lautet: Die Zivilgesellschaften müssen selbst ran.

An drei Punkten hat Welzer seine Erkenntnisse weiterentwickelt: „Ästhetische Strategien der Veränderung“ nennt er die Verwebung des Neuen mit dem Schönen, also seine Befreiung aus einem lähmenden moralischen Kontext. Vor allem muss die ökologische Frage für ihn klarer als bisher als soziale Frage verstanden werden. Über den Green New Deal der Grünen und Fritz Kuhns Evergreen „mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben“ lacht er sich eh tot. Die technisch-naturwissenschaftliche Lösungsfokussierung, die Idee, es mit smarten Produkten und mehr Windrädern hinzukriegen, lehnt er als illusorisch ab. Es geht nur und knallhart um Verteilung. Der Weg dahin ist Deprivilegisierung. Das Problem: Wir müssen uns selbst deprivilegisieren und von unserem Wohlstand abgeben.

Welzers dritte Forderung, die Politisierung der Nachhaltigkeitsdebatte, ernsthaftes statt illusionäres Reden, ist also grundsätzlich richtig und faktisch verwegen. Dass es mit Technologie allein nicht geht, sondern nur in Verknüpfung mit Politik, sieht man ja längst auch bei der Digitalisierung. Aber mit wem will er ernsthaft über ein Ende des Modells der „blödsinnigen Verschwendung“ reden in einer sozialdemokratisierten Wohlstandsgesellschaft, in der es zwar um Gerechtigkeit geht, aber nur unter denen mit dem richtigen Reisepass? Und in der Gerechtigkeit heißt, dass alle billig fliegen.

Aber richtig ist, dass da, wo es an einer politischen Vorstellung, an Kultur und Selbstwirksamkeitsgefühl fehlt, die Arbeit der Avantgarde in Gesellschaft und Unternehmen an einem nichtexpansiven Kulturmodell umso wichtiger ist. PETER UNFRIED

Harald Welzer, Dana Giesecke, Luise Tremel (Hg.): „Futurzwei Zukunftsalmanach 2015/16“. S. Fischer, Frankfurt/Main 2015, 544 S., 16,99 Euro