„Uns verband eine Fernliebe“

SPD Der Soziologe Oskar Negt war ein Freund von Günter Grass. Er spricht über Grass’ Leidenschaft für die SPD und den Typus des politischen Schriftstellers

■ Jahrgang 1934, ist Soziologe und Sozialphilosoph. Negt lehrte als Professor in Hannover und forschte zu Gewerkschaften und der Arbeitswelt. Er studierte bei Adorno.

taz: Herr Negt, was war Ihr erster Gedanke, als Sie von Günter Grass’ Tod erfuhren?

Oskar Negt: Sein Tod hat mich überrascht und sehr traurig gemacht. Ich habe noch im November in Hannover auf einer Veranstaltung mit ihm diskutiert. Grass wirkte ungeheuer lebendig. Seine Frau musste ihn nachts um drei Uhr auffordern, endlich nach Hause zu fahren.

Sie beide hegten Sympathien für die Sozialdemokratie und haben sich jahrzehntelang in die Politik eingemischt. Waren Sie denn auch persönlich befreundet?

Ja. Wir waren seit Mitte der 60er Jahre persönlich befreundet, trafen und sahen uns allerdings selten. Uns verband eine Fernliebe, wir hielten telefonisch oder per Brief Kontakt. Ich habe viel, eigentlich alles von ihm gelesen. Und immer, wenn wir uns persönlich trafen, lebte diese Sympathie sofort wieder auf.

Was war die SPD für Grass?

Die SPD bedeutete für ihn politische Substanz. Sie war die Partei, die für seine Werte stand. Er ist ja mehrmals aus- und wieder eingetreten, allein das zeigt, welch enge Beziehung das war. Grass und die SPD, das war wie die Jungfrau Maria und die katholische Kirche. Beides gehörte zusammen.

Grass unterstützte die Wahlkämpfe Willy Brandts und half bei dessen Siegen 1969 und 1972. Was machte seine Wirkung aus?

Er wirkte zunächst durch seine Autorität und Bekanntheit als Schriftsteller. Grass zehrte ja zu Recht ein Leben lang von seinem Erfolg mit der „Blechtrommel“. Außerdem hatte er ein einzigartiges Talent als Erzähler, er konnte wirklich in Bildern sprechen. Nicht zuletzt war Grass der Typus des politischen Schriftstellers schlechthin, der davon überzeugt war, sich einmischen zu dürfen und zu müssen. Er verstand Intellektuelle nie als folgsame Legitimatoren der Politik. Bei all dem spielte auch eine Rolle, dass er aus Danzig stammte, also Emigrant war.

Inwiefern war das wichtig?

Er kannte das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein. Angriffe und Feindseligkeiten, denen Intellektuelle ausgesetzt sind, machten ihm wenig aus. Sie waren für ihn eher ein Antrieb.

Stirbt der Typus des politisch denkenden und handelnden Schriftstellers aus?

Ich hoffe nicht.

Aber?

Es gibt eine gewisse Orientierungsnot der linken Intellektuellen. Ich glaube, das hängt mit dem Zusammenbruch des Ostblocks zusammen. Solange es die DDR noch gab, konnten Intellektuelle sagen, was der Sozialismus nicht ist. Oder besser: Was er nicht sein darf. Mit dem Fall der Mauer ist diese Abgrenzung verloren gegangen. Heute müsste man sagen, was der demokratische Sozialismus sein könnte. Das ist schwieriger.

Würden Sie sich von Literaten oder Wissenschaftlern mehr politisches Engagement wünschen?

Auf jeden Fall. Es würde der deutschen Debattenkultur guttun, wenn sich Intellektuelle wieder stärker in die Politik einmischten.

INTERVIEW: ULRICH SCHULTE