BERLINER SZENE
: Unterwegs am 1. Mai in Kreuzberg

Der Ursprungstext, der 1. Mai 1987, war ein Musterbeispiel postmoderner Unvernunft

Auf der Abschlussparty des polnischen Filmfestes tanze ich in den 1. Mai. Es werden ausschließlich Hits aus den 80er Jahren gespielt. „Rapper’s Delight“, „The Message“ und Ähnliches. B. sagt, viele Leute auf der traditionellen Walpurgisnachtdemo wären sehr aggro gewesen. Ich bin relativ dicht, kann in der Nacht aber kaum schlafen, weil das Zahnfleisch rebelliert, wenn man mehr als zwölf Zigaretten geraucht hat. Was ist das für ein Leben!

Verkatert geh ich am nächsten Morgen zur Postbank. Sie lügt immer noch, dass ihr Girokonto umsonst sei. Die Geldziehautomaten sind kaputt. Dann gibt es heut halt kein Geld.

In der Gneisenaustraße laufen drei Leute mit einer Batikfahne herum, auf der nichts steht. Das gefällt mir. Die Straßen in meiner Gegend sind angenehm leer. Am Kotti ist es wie immer. Ein alternativer Touristenführer erklärt seinen 20 Followern die ruhmreiche Geschichte des revolutionären 1. Mai auf Englisch. Jemand verteilt Zettel, auf denen steht: „Gegen Imperialismus hilft nur Revolution. Alles andere ist Illusion!“ Ich ziehe die Illusion vor.

„Der legendäre Kreuzberger Protestzug hat sich inzwischen längst in eine Latschdemo verwandelt. Die abendliche ‚Revolutionäre 1. Mai-Demonstration‘ und das Myfest sind eine Touristenattraktion geworden“, klagt ein Kollege in der Berliner Zeitung. Es klingt, als hätte es irgendwann mal revolutionäre 1.-Mai-Demos gegeben, die vernünftig gewesen wären. Wenn ich mich recht erinnere, war der Ursprungstext, der berühmte 1. Mai 1987, ein Musterbeispiel postmoderner Unvernunft. Und die einzige revolutionäre 1.-Mai-Demo, die mir gut gefiel, hatte Ende der 90er Jahre unter dem Motto „Gegen nächtliche Ruhestörung – für sinnlose Gewalt“ beziehungsweise „Gegen sinnlose Gewalt – für nächtliche Ruhestörung“ stattgefunden. Außerdem hat Olaf Thon heute Geburtstag!!! DETLEF KUHLBRODT