Freudenfest nach Anklage in Baltimore

USA Nach der Anklageerhebung gegen sechs Polizisten, denen die Beteiligung an der Tötung des Schwarzen Freddie Gray in Polizeigewahrsam vorgeworfen wird, feiert die schwarze Community der Stadt ihren Erfolg

„Dies ist nicht nur ein Rassenproblem, es geht auch um Klasse“

DURWOOD BUSH JR. BEI EINER DEMO

AUS BALTIMORE DOROTHEA HAHN

Baltimore ist immer noch eine belagerte Stadt. Doch zwischen den schwer bewaffneten Soldaten und Polizisten und den Schützenpanzern, die vor Banken, Geschäften und dem Hafen stehen, findet ein Freudenfest statt. „Unsere Leben zählen“, ruft der Bürgerrechtler Mark-Anthony Montgomery in die Menge, die sich am Samstagnachmittag am Rathaus versammelt hat. Müttern und Großmüttern laufen Tränen über die Gesichter. Wildfremde Menschen umarmen sich. Tanzen. Strecken ihre geballten Fäuste hoch. Halten Schilder hoch, auf denen steht: „Danke Mosby!“ Die Menge sieht aus wie die Stadt selbst: Sie sind mehrheitlich schwarz, mittendrin stehen Weiße mit Transparenten wie: „Bereit, Euch zu hören“.

Die Anklage gegen sechs Polizisten hat die Spannung gelöst, die seit Wochen über der Stadt lag. Ein Polizist soll sich wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz verantworten. „Dies ist der Kampf unseres Leben“, ruft eine junge Frau ins Megaphon. Um sie herum sind rund hundert Menschen versammelt. Sie stehen inmitten der „Projects“ – der heruntergekommenen Siedlung mit Sozialwohungen auf der Westside von Baltimore, wo Freddie Gray gelebt hat und an deren Rand ihm am 11. April im Polizeigewahrsam das Genick gebrochen worden ist. Die Organisatoren dieser Demonstration sind von Kopf bis Fuß in strenges Schwarz und in militärisch anmutende Schnürstiefel gekleidet. Einer von ihnen ist ein Onkel von Oscar Grant, ein anderes Opfer der Polizeigewalt in den USA, der in Kalifornien starb. „Wir müssen weiter kämpfen“, sagt er bei einer Ansprache, „dies ist ein Anfang. Aber wir sind noch weit vom Erfolg entfernt“.

Tausende von potenziellen Freddie Grays leben in Baltimore. Sie alle kennen die Schikanen und die Gewalt der Polizei, die Diskriminierungen im Arbeitsleben und bei der Wohnungssuche, sowie den misstrauischen Blick von Geschäftsleuten. In den drei Wochen seit Grays Genickbruch haben sie – unterstützt von Bürgerrechtlern aus allen Teilen der USA – täglich demonstriert. In einer Nacht nach der Beerdigung Grays kam es zu schweren Ausschreitungen. Jugendliche plünderten und zertrümmerten zahlreiche Geschäfte und Bars. Für Baltimore waren es die ersten Rassenunruhen seit 1968, als Martin Luther King ermordet wurde.

Fast ein halbes Jahrhundert nach „Dr. King“ haben die USA einen schwarzen Präsidenten und hat Baltimore eine schwarze Bürgermeisterin und einen schwarzen Polizeichef. „Dies ist nicht nur ein Rassenproblem“, sagt Durwood Bush jr., „es geht auch um Klasse“. Der 59-jährige Afroamerikaner besitzt ein Geschäft im Zentrum der Westside, ist Prediger und ist einer der vielen Communityorganizern im Stadtteil, die in den zurückliegenden Wochen deeskalierend gewirkt haben. Er freut sich über die Entscheidung der Staatsanwältin. Aber er ist skeptisch, dass sich etwas Grundsätzliches an der Lage ändern wird. Bislang hat er von den Politikern nur Erklärungen gehört. „In diesem Land reden alle über die Middle Class“, fügt er hinzu: „niemand spricht von der Under Class“.

Auch sechs Meilen von der Westside entfernt, in Downtown Baltimore, auf dem großen Platz neben dem Rathaus, warnen Redner vor zu viel Euphorie. Ein schwarzer Vietnam-Veteran fordert am Samstag die Demonstranten auf, einen Blick hinter sich und nach oben zu werfen. Auf dem Dach des Kriegsdenkmals auf der anderen Seite des Platzes sind Soldaten stationiert. „Es sind Scharfschütze“, sagt der Redner. Wenig später spricht eine Senatorin aus Maryland. Die Afroamerikanerin Catherine Pugh hat in den letzten Wochen allabendlich auf den Straßen Präsenz gezeigt. „Was in Baltimore passiert ist“, sagt sie, „setzt neue Standards für das Land. Es gibt uns allen neue Möglichkeiten.“