Äthiopische Einwanderer rebellieren

ISRAEL Bei Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt kommt es zu Straßenschlachten mit der Polizei. Auslöser ist ein Video. Doch die Diskriminierung der Äthiopier dauert seit Jahren und hat tief liegende Wurzeln

„Seit wann ist Farbe ein Verbrechen?“, fragte einer der Demonstranten

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Israels Regierung bemüht sich darum, den Zorn der äthiopischen Juden zu beruhigen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte die Untersuchung des Zwischenfalls an, der die jüngsten Unruhen auslöste. Am Sonntagabend war in Tel Aviv eine Demonstration von Juden äthiopischer Herkunft eskaliert, die seit Tagen gegen Rassismus und Polizeigewalt in Israel auf die Straße gehen. Drei Tage nach ähnlichen Ausschreitungen in Jerusalem hatten sich am Sonntag Teilnehmer eines Protestmarschs in Tel Aviv Straßenschlachten mit Sicherheitskräften geliefert. Die Polizei setzte Blendgranaten und Wasserwerfer ein, Demonstranten warfen Steine und Flaschen auf Polizisten. Nach Angaben einer Polizeisprecherin wurden 55 Polizisten und zwölf Demonstranten verletzt, 43 Demonstranten wurden festgenommen. Auslöser der Proteste war ein Video, auf dem zu sehen ist, wie zwei Polizisten den äthiopisch-stämmigen Soldaten Damas Pakada verprügeln.

„Wir werden nicht länger schweigen“, stand auf den Plakaten der Demonstranten. Staatspräsident Reuven Rivlin solidarisierte sich mit dem Schmerz der Äthiopier. Er sprach von einer „offenen und schmerzenden Wunde im Herzen der israelischen Gesellschaft“ und räumte ein, dass Fehler gemacht wurden. Dennoch sei „Gewalt nicht der Weg zu einer Lösung“.

Alle paar Jahre reißt der Geduldsfaden der äthiopischen Juden, die in zwei großen Einwanderungswellen Mitte der 80er und in den frühen 90er Jahren nach Israel kamen. Gut 130.000 leben heute in Israel, die Äthiopier machen rund drei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die erste große Enttäuschung für sie kam mit den Berichten über die Blutkonserven von äthiopischen Spendern, die Mitarbeiter des Roten Davidsterns aus Angst, sie könnten HIV-infiziert seien, vernichteten. Für Aufruhr sorgte Jahre später der Skandal um das Verhütungsmittel Depo-Provera, das äthiopischen Frauen ohne Wissen oder unter Zwang gespritzt wurde und die Geburtenrate um 20 Prozent fallen ließ. Vor drei Jahren schließlich ging der israelische Fernsehsender „Channel 2“ mit dem Bericht über einen Geheimpakt von 120 Hausbesitzern in der Stadt Kirjat Mal’achi an die Öffentlichkeit. Die Hausbesitzer einigten sich darauf, ihren Wohnraum nicht an äthiopische Immigranten zu verkaufen oder zu vermieten.

„Seit wann ist Farbe ein Verbrechen?“, fragte einer der Demonstranten auf seinem Protestschild. Und: „Es reicht mit der Gewalt der Polizei.“ Die meisten Demonstranten kamen aus Solidarität mit Pakada und aus Frustration über ihre gesellschaftliche Stellung. Einer gestern von der Zeitung Haaretz veröffentlichten Untersuchung zufolge, liegt die Arbeits- und Armutsrate bei den Äthiopiern weit über dem in Tel AvivLandesdurchschnitt. 38,5 Prozent der äthiopisch-stämmigen Israelis leben unter der Armutsgrenze, ein Drittel ist arbeitslos. Unter den Demonstranten befänden sich „unsere feinsten Söhne und Töchter; hervorragende Studenten“, meinte Rivlin. Ihnen schulde Israel Antworten.

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