Regina Lawrowritsch erinnert sich

Ich bin mit elf Jahren, ohne Eltern, nach Deutschland deportiert worden. Vorher musste ich in Frankreich Zwangsarbeit leisten. Die Befreiung habe ich im April in Mosbach, in der Nähe von Stuttgart, erlebt. In den Stollen dort im Arbeitslager musste ich nicht arbeiten, dafür war ich zu klein.

Es war seltsam: Einerseits sind wir von den amerikanischen Truppen befreit worden, andererseits herrschte nicht allzu große Freude, da die Amerikaner uns nicht so nahe waren.

An den 8. Mai kann ich mich nicht erinnern, nur daran, wie wir den 1. Mai gefeiert haben. Kolonnen von halbnackten, dreckigen und hungrigen Häftlingen trugen rote Fahnen und marschierten die Straßen der Kleinstadt entlang. An den Fenstern sah man weiße Flaggen, die deutschen Einwohner hatten kapituliert. Sie hatten aschfahle Gesichter.

Da wir Kinder zum Mittag nie Essen bekommen haben, bettelten wir in den Straßen. Zwei deutsche Frauen, wahrscheinlich Schwestern, riefen mich herein und legten mir zwei Äpfel in die Hand. Immer wenn ich einen Apfel rieche oder sehe, muss ich sofort an diese zwei Frauen denken.

Ich verstehe überhaupt nicht, wie Hitler es geschafft hat, innerhalb von einigen Jahren solch eine talentierte Nation zur Bestie zu machen. Es sind wirklich schreckliche Gräueltaten begangen worden. Ich glaube, dass wir jetzt besonders aufmerksam sein müssen, um die Wahrheit von der Unwahrheit unterscheiden zu können. Es ist die Aufgabe der jungen Leute, zu verstehen, dass ein Krieg nicht von heute auf morgen beginnt. Es gibt immer eine Vorbereitung und nun scheint es wieder eine zu geben. Wenn Menschen sterben, ist es ein deutliches Signal, dass eingegriffen werden muss.

Regina Alexandrowna Lawrowritsch wurde 1933 in Osowez, Belarus geboren. Mit zehn Jahren wurde sie von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Frankreich deportiert. Sie lebt heute in Minsk und leitet seit 20 Jahren den Verband der Minderjährigen Zwangsarbeiter „Dolja“ (Schicksal). NOTIERT VON TOBIAS HAUSDORF