Als es still geworden war

NACHKRIEG Die Notizen des amerikanischen Historikers Melvin Lasky über das Deutschland von 1945 ergeben ein eindringliches und ungeschminktes Bild von Siegern und Besiegten

VON KLAUS HILLENBRAND

Wenn doch ein neues Deutschland entstehen könnte! Ein wieder von Kultur und Bildung geprägtes Land …“ Als Melvin Lasky diesen Satz am 3. April 1945 notiert, befindet er sich mitten in der deutschen Trümmerwüste. Der Krieg ist noch nicht beendet, doch schon jetzt werden erste entscheidende Pflöcke für die Zukunft des Landes eingeschlagen. Lasky, der als Militärhistoriker den Truppen der US-Armee folgt, ist dabei: als Soldat, der in seinem Tagebuch genauestens und schonungslos seine Beobachtungen notiert. Nicht, dass er an dieses neue Deutschland glaubt – schon im nächsten Satz schreibt er: „Aber das ist eine reichlich schlichte, naive Hoffnung.“

70 Jahre nach ihrer Niederschrift sind die Aufzeichnungen des jüdischen Amerikaners Melvin Lasky jetzt in Buchform erschienen. Diese kaum noch Notizen zu nennenden eindringlichen Beobachtungen gehen weit über die bekannte Erinnerungsliteratur aus der unmittelbaren Nachkriegszeit hinaus. Denn Lasky beschreibt nicht nur Chaos, Verzweiflung und Elend der Deutschen, er geht ebenso präzise den Fehlern der Besatzer nach. Als Offizier legt er für sich selbst das Fraternisierungsverbot der Truppe ungewohnt großzügig aus, spricht mit gerade ernannten Ortsbürgermeistern, Ausgebombten, Intellektuellen, Displaced Persons, Nazis, Anti-Nazis und „Nichtnazis“.

Die Annäherung an das besiegte Deutschland beginnt langsam und vorsichtig in der französischen Etappe. Lasky, eigentlich zur Beschreibung der Truppengeschichte abkommandiert, macht Ausflüge in den Elsass und besucht Straßburg, wo ihn seine erste deutsche Granate empfängt. Er fährt zu den frischen Schlachtfeldern und findet dort nicht Heroisches, sondern nur Tod und Zerstörung. Seine Beute sind zerlesene Cervantes-Ausgaben oder eine unvollständige Sammlung von Goethes Werken. Hier tritt kein Soldat auf, sondern ein Intellektueller, der stets darum bemüht ist, das soeben selbst Erfahrene zu interpretieren, und der doch bisweilen staunend vor der umfassenden Zerstörungen kapitulieren muss. Als Lasky im März 1945 deutschen Boden betritt, hofft er, doch einmal einen weniger zerstörten Ort durchfahren zu dürfen. Doch er findet keinen.

Nun ist es nicht so, dass Melvin Lasky rührselige Notizen über die armen Deutschen verfasst hat. Keine Sekunde bleibt unklar, wer diese Barbarei angerichtet hat, deren Nebenwirkungen sich in plündernden amerikanischen Soldaten und einer desorganisierten Verwaltung manifestieren. Einquartiert in einem von Deutschen geräumten Haus in Darmstadt findet er ein Kinderbett. „Es bestand aus feinem Maschendraht, als würde die Gefängnissklaverei des Deutschen schon in seinen ersten Lebenstagen anfangen. Wir warfen das Kinderbett hinaus.“

Kein Optimismus

Laskys Arbeit als Militärhistoriker in Deutschland zieht sich bis 1946 hin, und das gibt ihm die Gelegenheit, die Versuche der Entnazifizierung und Demokratisierung zu beobachten. Er findet wenig Gutes: die US-Politik widersprüchlich und unprofessionell, die Deutschen unterwürfig und leidend. Er trifft in Heidelberg den von den Nazis geschassten Professor Karl Jaspers, nimmt an der Wiedereröffnung der Universität teil, findet die ersten wieder eröffneten Buchhandlungen und verspürt Hoffnung. Doch solcher Optimismus bleibt eine seltene Ausnahme.

Den 8. Mai 1945 erlebt er in Augsburg. Lakonisch schreibt Lasky: „Ein warmer, sonniger Tag. Brach um neun Uhr auf. Der Krieg ist vorbei. Lastwagen in Konvois, überladen mit Gefangenen. Eine alte Frau, ein junges Mädchen winken zum Abschied, gehen langsam weiter.“

Lasky ist nach seiner Militärzeit in Deutschland geblieben und hat dort die Zeitschrift Der Monat begründet, ein intellektuelles, strikt antistalinistisches Blatt, von dem wir heute wissen, dass es auch von den Zuwendungen der CIA lebte. Seine tiefe Skepsis vor den Kommunisten wird schon in seinen jetzt veröffentlichen Briefen deutlich, wenn er vor einer naiven US-Politik gegenüber Stalin warnt oder bei einem Besuch Thüringens die Bevorzugung der SED durch die Sowjets beobachtet.

Tagebücher in Buchform können sehr mühselige Werke sein, deren Wert sich vor allem aus den Details ergibt. Von Melvin Laskys Notizen mag man kaum glauben, dass sie von einem ermatteten Offizier am Ende eines langen Tages hingekritzelt sein könnten – sie sind spannende Literatur.

Melvin J. Lasky: „Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945“. Rowohlt Berlin Verlag, 490 S., 24,95 Euro